Die Verwunderung war groß: Hat es so etwas beim Theatertreffen schon einmal gegeben? Mit einhelligem Lob wurde die Auswahl der Jury in der Berichterstattung begrüßt, die üblichen Kontroversen blieben aus. Auch sonst blieb das Theatertreffen in seiner 61. Ausgabe von pseudopolitischen Peinlichkeiten verschont, die man bei anderen Kulturveranstaltungen wie der Berlinale zuletzt beobachten konnte. Und nach dem „Publikumsschwund“ in den Vorjahren sind nun auch die Zuschauer wieder zurück.
Man hatte solche Bilder fast vergessen: Menschen mit „Suche Karte“-Schildern vor dem Haus der Berliner Festspiele und lange Schlangen beim Versuch, noch eine Restkarte zu erhaschen. Das sah im Vorjahr noch anders aus, als eine Kollektivleitung angetreten war, das Theatertreffen mit einem Hauch von Documenta zu versehen. Mit dem Effekt, dass 10er-Auswahl von dem aufgeblasenen Rahmenprogramm erdrückt wurden – und sich das mit solch eitler Selbstbespaßung weniger vertraute Publikum fernhielt.
Das Kollektiv an der Spitze wurde nach nur einer verunglückten Ausgabe von Nora Hertlein-Hull abgelöst, die von den Lessing-Tagen aus Hamburg kam. Mit ihr konzentriert sich das Theatertreffen aufs Wesentliche. Der Ton ist sachlich-freundlich, nicht aktivistisch-aufgekratzt. Wo die Jury bei der Abschlussdiskussion im Vorjahr wie auf der Anklagebank saß – zu weiß, zu hetero, zu wenig Klimawandel und überhaupt zu viel Theater –, ist der entspannte Plauderton zurückgekehrt. Sogar die bunten Lampions in den Kastanien vor dem Festspielhaus scheinen ein wohligeres Licht zu verströmen.
Bei diesem Jahrgang habe man „aus dem Vollen schöpfen können“, so ein Mitglied der Kritikerjury, die fast 700 Vorstellungen sichtete. Man hätte bei der Qualität ohne Probleme mehr als nur zehn Inszenierungen einladen können, so weiter. Eine erfreuliche Nachricht, die von der Lebendigkeit des Theaters zeugt. Tatsächlich bildet die Auswahl unterschiedliche Theatersprachen ab, die in ihrer Eigenheit jeweils eine große künstlerische Komplexität aufweisen – von der Stückentwicklung über die Performance und Immersion bis zur Klassikerbefragung.
Was in der diesjährigen Auswahl nicht auftaucht, sind bemühte Thesenstücke oder Authentizitätshuberei. Stattdessen rückt das Spielerische in den Vordergrund, was bei der offenbar jahrelang künstlerisch mangelernährten Kritik dazu führt, nun exzessiv mit der Vokabel vom Schauspieler- oder Theaterfest um sich zu schmeißen. Nüchterner betrachtet ist die Wiederkehr der Verwandlungslust auf der Bühne ein Anzeichen dafür, wie sehr die Spielräume in der Wirklichkeit schwinden und die öffentliche Debatte immer rigider einem Bekenntniszwang des Entweder-oder unterworfen wird.
Noch etwas fällt auf: Die Auswahl ist recht lichtscheu geraten. Es geht ins Dunkle, Undurchsichtige und Vernebelte, kurz: in Abgründe, die weder mit der reinen noch der kommunikativen Vernunft allein aufzuhellen sind. Es scheint, als würde im Theater all das Unheimliche, Unbewältigte und Unanschauliche auf die Bühne kommen können, das in einer auf totale Transparenz gebürsteten Gegenwart verdrängt und abgewehrt wird. In Abgrenzung zum Allgegenwärtigen entdeckt das Theater den eigenen Zugriff aufs Gegenwartsgeschehen.
Beispielhaft für die Verbindung von formaler Formstrenge und Wirklichkeitsbezug steht die Eröffnungsinszenierung „Nathan der Weise“ von Ulrich Rasche, ein düsteres Exerzitium auf der Drehbühne. Angeführt von Valery Tscheplanowa als Nathan verwandelt sich das Ensemble in reine Bewegung, setzt Fuß nach Fuß auf den sich unerbittlich drehenden Untergrund, stößt Wort um Wort in den dunklen Saal. Das Herz der Finsternis ist hier das Massaker an Nathans Frau und Kindern, die Ringparabel ist nicht mehr als das flüchtige Licht der Aufklärung, das bald wieder erlischt. „Zu Hilf‘, zu Hilf‘!“ sind die letzten Worte des Juden Nathan, ein einsamer Rufer in der Dunkelheit.
Was Rasche als seine „Ästhetik des Gehens“ bezeichnet, ist zwar quälend und eintönig, doch bei Lessings Klassiker über Toleranz in Zeiten der Glaubenskriege entwickelt das eine unbestreitbare Wucht. Wenn der Chor „Der Jude wird verbrannt!“ skandiert, zittert die Gewalt nach, die mit dem Massaker vom 7. Oktober in Israel wohl jedem Zuschauer vor Augen steht. Ganz ähnlich bei dem Musical „Bucket List“ von Yael Ronen, in dem es vordergründig um Beziehungsende und Trennungsschmerz geht, doch durch den 7. Oktober ein Hintersinn mitschwingt, der von Welt- und Wirklichkeitsverlust handelt.
Noch nebliger und dunkler als bei „Nathan“ wurde es bei „Extra Life“ von Gisèle Vienne, die den Nebel wie Scheiben zerteilenden Lichteffekte setzten nochmals neue Maßstäbe. Wie Rasche mit seinem theatralen Wiederholungszwang gelingt es auch Vienne, eine „Traumadramaturgie“ zu finden, wie es ein Jurymitglied ausdrückte. In „Extra Life“ geht es um den Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Kindheit. Ein Abend, der sich in seiner zerdehnten Zeitlichkeit und seinen gebrochenen Bildern schmerzhaft einprägt.
Überraschend kam der Bochumer „Macbeth“ beim Berliner Publikum nicht wirklich an. Dabei war die auf drei Figuren reduzierte Inszenierung von Johan Simons eine Gelegenheit, sich mit dem ans Berliner Ensemble wechselnden Schauspielstar Jens Harzer vertraut zu machen. Doch das Böse als leerlaufendes Spiel trauriger Clowns gefiel nicht allen, während Jette Steckels „Die Vaterlosen“ – ebenfalls aus der Abteilung Klassiker – mit Joachim Meyerhoff und Wiebke Puls völlig zu Recht Begeisterungsstürme erntete, erstaunlicher- und unverständlicherweise aber auch das enttäuschend banale, immersive „Herr der Ringe“-Spektakel „Riesenhaft in Mittelerde“.
Als Publikumsliebling erwies sich „Laios“, das umwerfende Solo von Lina Beckmann aus dem „Anthropolis“-Projekt. Ronald Schimmelpfennigs Stück zeigt, dass sich antike Stoffe für die Gegenwartsdramatik lohnen, wenn man daraus eine spannende Erzählung über jene Erzählungen macht, die sich die Menschen gegenseitig und auch sich selbst erzählen. Die Kommentarebene zieht immer weiter in die Geschichte hinein, sodass am Ende ein kathartischer Effekt eintritt. Das zweite Solo der Auswahl, Dimitrij Schaad in Falk Richters „The Silence“, erkundete ebenfalls Verwerfungen im Generationengeflecht, wobei die deutsche Nachkriegsgeschichte der Antike künstlerisch kaum nachsteht.
Zum Abschluss am Pfingstmontag gab es noch eine weitere Überraschung: „Die Hundekotattacke“ vom Theaterhaus Jena räumte nach dem 3sat-Preis auch den Alfred-Kerr-Preis ab, den der rappende Schauspieler Nikita Buldyrski erhielt. „Die Hundekotattacke“ zeigt, dass auch abseits der großen Theatermetropolen kluges und witziges Theater gemacht wird, das die gesamte Bühnenwelt angeht. Es ist eine Hommage an die Kraft des Theaters, jeden – im weiteren Sinne – noch so üblen Shitstorm bewältigen zu können. Eine frohe Botschaft, die vom diesjährigen Theatertreffen ausgeht.