Wer war nochmal Jack Nicholson? In „Einer flog über das Kuckucksnest“ spielt der berühmte Schauspieler den aufmüpfigen McMurphy in einer US-amerikanischen Irrenanstalt, der Film wurde 1976 mit Oscars überhäuft und gilt heute als Klassiker. Nun kann man den Roman von Ken Kesey, der dem Film als Vorlage diente, als Theaterstück sehen – gespielt von Insassen der Justizvollzugsanstalt Plötzensee in Berlin. Und das ist ein so großartiger Abend, dass man gar nicht mehr an den Film von Miloš Forman denkt. Vergessen Sie Jack Nicholson!
Auftritt Nehad Fandi als McMurphy: Ein Cowboy mit Hut und Stiefeln, den man sich vor weiten Landschaften im Sonnenuntergang vorstellen mag, nicht aber eingesperrt in einer psychiatrischen Anstalt. Zwischen den hellblauen Matten an den Wänden und den festverschraubten Plastikschalensitzen – Bühne: Holger Syrbe – wirkt McMurphy mit seiner ungezügelten Kraft und seinem unbändigen Freiheitswillen fehl am Platz. Die vergitterten Fenster gehören, sehr passend, zur Originalkulisse im Kultursaal der JVA Plötzensee.
Mit Schwester Ratched hat McMurphy eine fiese und strenge Gegenspielerin, die mit ihrem Schreibtisch über dem Anstaltsgeschehen thront und mit ihrem gefürchteten Mikrofon die Insassen zu Zucht und Ordnung ermahnt. Steven Mädel zupft sich das Kleid zurecht, schnappt sich die Handtasche und stöckelt von der Empore herab – Kostüme: Haemin Jung –, die Gruppentherapie mit dem „heißen Stuhl“ ruft. Bei der Psychotortur trifft es oft den stotternden Billy mit Mama-Komplex, die anderen Insassen schauen verlegen zu Boden.
Vorbereitung mit Netflix
Fandi und Mädel sind die Stars des Knastensembles. Bereits in den vergangenen Jahren hat der mit seiner Wucht beeindruckende Fandi in „Die Festung“ und „Die Gerechten“ große Rollen gespielt, Mädel ist sogar schon seit 13 Jahren dabei – fast schon ein Profi. Als Vorbereitung auf seine Rolle hat er sich nicht nur den Klassikerfilm, sondern auch die neuere Netflix-Serie „Ratched“ angeschaut, wie Mädel bei der kleinen Premierenfeier mit Buletten, Cola und Spekulatius erzählt. Lob für seinen Auftritt bekommt er auch von JVA-Beamten.
Allerdings ist an diesem Abend in dem Ensemble jeder ein Star: Der herrlich verdruckste Dr. Spivey, der überkorrekte Pfleger, der einen glitzernden Auftritt als Candy feiert, der stets den Weg des geringsten Widerstands suchende Harding, der schräge Bombenbastler und alle anderen. Und vor allem der unglaublich charmante Häuptling Bromden, der sich schweigend an seinen Besen klammert und gelegentlich im Schrank verschwindet, bevor sein großer Schlussauftritt kommt. Alle sind, hier trifft es wirklich zu, begeisternde Charakterschauspieler.
Es ist ein Abend von funkensprühender Komik – und ergreifender Tragik. Man merkt, dass die Schauspieler mit diesem Stück an diesem Ort auch ihr eigenes Leben mit auf die Bühne bringen. Im Publikum fließen Tränen, vor Lachen und Rührung. Unterstützt wird das von der Musik. Abgründig singt Schwester Ratched vom Sandmann – „Kinder, liebe Kinder, es hat mir Spaß gemacht“ – und am Bett des durch eine Lobotomie außer Gefecht gesetzten McMurphy wird der Bach-Choral „Ach wie nichtig, ach wie flüchtig“ angestimmt. Großes Theater.
Sieben Wochen hat Regisseur Peter Atanassow mit den Gefangenen geprobt, für viele war es der erste Bühnenauftritt in ihrem Leben. Applaus haben viele wohl eher selten für etwas bekommen, was sie gemacht haben, wie die Dokumentation „Aufbruch hinter Gittern“ zeigt. Am Vorabend der Premiere von „Einer flog über das Kuckucksnest“ im ZDF ausgestrahlt, lernt man das Theaterprojekt AufBruch kennen, das seit über 25 Jahren in Berliner Gefängnissen arbeitet. Es sind harte Lebensgeschichten, im Theaterspielen stecken Hoffnung und Glück.
Anarchischer Witz
Vor fast genau einem Jahr landete bereits ein anderes Berliner Theater abseits der großen Bühnen einen Hit mit „Einer flog über das Kuckucksnest“: das RambaZamba. In dem Theater im Prenzlauer Berg stehen Behinderte auf der Bühne, es ist eines der renommiertesten inklusiven Häuser des Landes oder gar Europas. Viele Schauspieler aus dem Ensemble wie Zora Schemm oder Jonas Sippel standen bereits für einige Kino- und Fernsehfilme vor der Kamera. Im RambaZamba begeistern sie durch eine unvergleichliche Spielfreude.
„Einer flog über das Kuckucksnest“ ist die erste Arbeit von dem erfolgreichen Regisseur Leander Haußmann („Sonnenallee“, „Herr Lehmann“) am RambaZamba. Der Abend wird vom Publikum und der Kritik gefeiert, inzwischen hat Haußmann mit „Läuft!“ nachgelegt, einer schreiend komischen, bitterbösen und berührenden Stückentwicklung mit dem bei „Wetten, dass …?“ verunglückten Samuel Koch als Gast-Star. So einen anarchischen Witz, der alle Triggerwarnungen über den Haufen wirft, findet man in keinem anderen Theater.
Für „aerocircus“ hat sich das RambaZamba nun auf die riesige Bühne im Haus der Berliner Festspiele gewagt, für die der bekannte Künstler Tomás Saraceno ein paar seiner hübschen Balloninstallationen entworfen hat. Es ist eine Feier des Zirkus. Es gibt Akrobaten und Tiere – zumindest als Elefant-, Nashorn- und Zebra-Puppe. Mittendrin ein Mutter-Courage-Planwagen und als gottgleiches Orakel die unvergleichliche Ilse Ritter. Oben auf dem Rang spielt eine Band, im Puppentheater bricht gar eine Schlägerei aus. Ein liebenswertes Chaos.
Immer noch Gegenwartsparabel
So wunderschön der große Zirkus in seinen besten Momenten ist, umso weniger kann man etwas mit dem Text des mit Preisen überhäuften Dramatikers Thomas Köck anfangen, der an diesem Abend uraufgeführt wird. Eine Mischung aus Weltuntergangsklage, Agitprop und Theaterbedienungsanleitung, die mit ihren pseudodeepen oder -radikalen Kalendersprüchen den kaum zu überschätzenden Kunstgrundsatz „show, don’t tell“ geflissentlich ignoriert. Diskursgelaber ist nun aber gerade nicht das, was das RambaZamba so großartig macht.
RambaZamba-Leiter Jacob Höhne hat als Regisseur seine liebe Mühe, dem Köck‘schen Textungeheuer mit seinem Ensemble spielerisch beizukommen. Am Ende ist es wie bei „Falling / In Love“ im Friedrichstadtpalast: Die Show wäre ohne die schwache Story einfach besser, weil mit der zwanghaften Behauptung von Sinn niemanden geholfen ist. Lust und Verausgabung brauchen keinen Überbau, der eine politische Rechtfertigung behauptet, die wie ein jugendlicher Erstkontakt mit einer Antikapitalismus-für-Dummies-Broschüre klingt.
Aktualität auf der Bühne geht auch anders als mit neuen Parolen. So taugt „Einer flog über das Kuckucksnest“, wie man bei RambaZamba und AufBruch sehen kann, noch immer als Gegenwartsparabel: Mit der erdrückenden Ordnung, in der im totaltherapeutischen Jargon immer alles „zum Besten“ der Insassen geschieht, aber nichts besser wird, dürfte heute jeder Mensch irgendeine Erfahrung verbinden können. Sind wir nicht alle ein bisschen Insassen mit einer fiesen kleinen Ratched in unserem Kopf? Träumen wir nicht auch von einem McMurphy, der Chaos in diese falsche Ordnung bringt, wenn auch keine bessere Ordnung?
Noch etwas zeigt sich mit „Einer flog über das Kuckucksnest“: Das Theater, das einen berührt und den berühmten anderen Blick auf die Welt eröffnet, findet nicht nur auf den größten Bühnen statt. Es lohnt sich, nach dem Ungewöhnlichen Ausschau zu halten. Und manchmal findet man es sogar. Es braucht eben nicht immer einen Jack Nicholson. Aber den hat man ja sowieso fast schon vergessen, nachdem man bei AufBruch oder im RambaZamba war.
Die Dokumentation „Aufbruch hinter Gittern“ steht in der ZDF-Mediathek zum Stream bereit.