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Meinung Gefängnistheater

So eine „Dreigroschenoper“ haben Sie noch nie gesehen

Freier Mitarbeiter im Feuilleton
„Man siehet die im Lichte“: Travestie im Tegeler Gefängnishof „Man siehet die im Lichte“: Travestie im Tegeler Gefängnishof
„Man siehet die im Lichte“: Travestie im Tegeler Gefängnishof
Quelle: Thomas Aurin
Lohnt sich Verbrechen doch? In der „Dreigroschenoper“ kommt der Gangster Mackie Messer straffrei davon. Jetzt wird der Klassiker von Brecht und Weill in der Berliner JVA Tegel gespielt, von Häftlingen. Wie geht es für sie aus?
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Im Stück nimmt alles ein gutes Ende: Als der große Gangster Mackie Messer schon am Galgen steht, erscheint der berittene Bote des Königs mit der Begnadigung. Adelsstand mit lebenslanger Rente statt Hinrichtung. Verbrechen lohnt sich doch? Nicht so in der Wirklichkeit, in der kein Bote kommt mit der Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte, außer man verlegt sich auf die hohe Plünderkunst des Cum-Cum, Cum-Ex und weg. Nun wurde „Die Dreigroschenoper“ in einem Berliner Gefängnis aufgeführt – von Häftlingen.

Der Welthit von Bertolt Brecht und Kurt Weill, der Verbrechen und Gesellschaft im außermoralischen Sinne betrachtet, und verurteilte Straftäter, von denen viele für Jahre hinter Gittern sind, wie passt das zusammen? Großartig, geradezu überwältigend. In den vergangenen Jahren gab es viele Inszenierungen der „Dreigroschenoper“ – von Robert Wilson, Thomas Ostermeier oder Barrie Kosky –, die das Artifizielle und Verspielte gefeiert haben. Doch so eine raue Schönheit wie in der JVA Tegel hat man nie gesehen.

Der spezielle Charme des Gefangenenensembles rührt zum einen daher, dass es sich um Laiendarsteller handelt, auch wenn man so manchen aus der Truppe bereits aus vorigen AufBruch-Inszenierungen kennt. Und zum anderen daher, dass die Darsteller gerade für ein Stück wie „Die Dreigroschenoper“ etwas mitbringen, was man Erfahrungshintergrund oder Milieukenntnis nennen kann. Das kann sich ein Bühnenprofi auch mit noch so viel Methode à la Strasberg oder Stanislawski nur schwer aneignen.

Was man – nach ausführlichen Sicherheitskontrollen, Leibesvisitation und zahlreichen Türen und Toren mit Stacheldraht – im Freistundenhof eines stillgelegten Trakts der JVA Tegel sehen kann, braucht sich aber auch künstlerisch nicht zu verstecken. Über neun Wochen dauerten die Proben: Texte lernen und zudem die Lieder einstudieren. Das war selbst für den Verein AufBruch, der seit über 25 Jahren Theater in Berliner Gefängnissen macht, mit 20 Darstellern und fünf Musikern ein besonders herausforderndes Vorhaben.

Und der Haifisch?

Zwischen den hohen Mauern mit den Gitterfenstern erklingen die berühmten Songs: „Und der Haifisch, der hat Zähne …“ Auch im übertragenen Sinne wird der richtige Ton getroffen: derb und witzig, zugleich aber auch zart und berührend. Mit Schlagwerk, Tuba, Saxofon, Klarinette, Banjo und Ukulele gelingt es den Musikern der 17 Hippies, Weill einen zusätzlichen flotten Hauch von Straßenmusik, Spelunkenkapelle und Gossenpoesie zu verleihen, was der jazzigen Anlage der Kompositionen entgegenkommt.

So folgt man Mackie Messer & Co. beschwingt von einem Schauplatz zum anderen. Das Bühnenbild von Holger Syrbe bietet mit seinen zahlreichen Türen und Treppen viele Möglichkeiten für spektakuläre Auftritte, die für Operettenatmosphäre sorgen. Die aufgemalten Fassaden mit ihren unvergitterten Fenstern und Feuertreppen schaffen einen deutlichen Kontrast zur baulichen Umgebung. Ein geschicktes Spiel mit Vorder- und Rückseiten sozialer Architektonik, wie „Die Dreigroschenoper“ im Gesamten.

Bei Brecht und Weill schleppt jede Figur ihren eigenen Doppelgänger mit, die Grenzen zwischen Verbrecher, Polizist und Geschäftsmann verschwimmen, ebenso zwischen Hure, Ehefrau und Geschäftspartnerin. Wer ist hier wer? Und wer spielt welches Spiel? Für das Hurenhaus, in dem Mackie Messer regelmäßig absteigt, werfen sich die harten Jungs aus dem Knast in feine Frauenkleider – Kostüme: Anne Schartmann –, kräftige Männerarme mit Tätowierungen ragen unter Rüschen hervor. Das Publikum jubelt.

Plötzlich ist man in der unglaublichsten Travestieshow Berlins gelandet, Röcke werden gehoben, Beine geschwungen. Die entfesselte Spielfreude der Darsteller ist kaum zu bremsen. H. Peter Maier und Norman als Frau und Herr Peachum sind sensationell, Paul E. verleiht Macheath etwas Schalkhaftes, während Marco als seine Frau Polly Peachum mit sprödem Charme begeistert, der in Steffen Kahrels als Lucy – der zweiten Frau des Verbrecherkönigs – einen ebenbürtigen Widerpart hat. Um nur einige hervorzuheben.

Regisseur Peter Atanassow, ein altgedienter Veteran des Gefängnistheaters AufBruch, lockt bei der „Dreigroschenoper“ wieder einmal kaum für möglich Gehaltenes aus seiner Truppe heraus. Das gelang ihm bereits im Vorjahr mit „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ und der umwerfenden Inszenierung „Einer flog über das Kuckucksnest“ in der JVA Plötzensee, die auch der Berliner Kultursenator Joe Chialo besuchte und den Berichten nach im Anschluss unbefangen mit dem Ensemble ins Gespräch kam.

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Die Moral von der Geschichte? Bei Brecht heißt es lapidar: „Ein guter Mensch sein? Ja, wer wär’s nicht gern!“ Um hinzuzufügen: „Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.“ Nach über zwei Stunden ist die Sonne fast hinter den hohen Mauern verschwunden, ein letzter Lichtstrahl trifft noch den reitenden Boten des Königs, der oben auf der Bühne steht. Nachdem das Publikum stehend Applaus gespendet hat, trennen sich die Wege. Für das Ensemble heißt es nun: Einschluss. Die Zuschauer treten ins Freie. Wie heißt es in der „Dreigroschenoper“? „Und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“

Anmerkung: Dass einige Darsteller mit Vor- und Nachnamen genannt werden, andere mit abgekürzten Nachnamen und wieder andere nur mit dem Vornamen, liegt daran, dass beim Gefängnistheater jeder selbst entscheidet, was von ihm öffentlich wird.

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