Es passiert nicht oft, dass man einen Song bei einem Popkonzert zweimal hintereinander hört. Unter der todessternhaften Decke des ausverkauften Berliner Velodroms wird aber auch auf kein Lied von Troye Sivan so gewartet wie auf „Rush“, das dann erst am Schluss gespielt wird. Warum ist das so? Mit dem Musikvideo zu „Rush“ wurde vergangenen Sommer noch einmal der Traum von Berlin für eine neue Generation ausbuchstabiert.
Troye Sivan, ein in Australien aufgewachsener 29-jähriger Musiker hatte einen Sommerhit gelandet. Das für einen Emmy nominierte Video war im östlichen Berlin entstanden, an bei Clubkids beliebten, eigentlich eher zweifelhaften Locations wie der Warschauer Straße, am Weißen See und in einem aufgegebenen Freizeitzentrum. „Ich hatte hier die magischsten Erfahrungen“, sagt Troye Sivan zum Publikum. „Ihr seid mir ans Herz gewachsen, ihr habt mich für immer verändert.“
Was genau hat ihn verändert? Tanzen, Küssen, Afterhourn. Was die Jugend der Welt in Berlin halt so macht, mit einem queeren Oberton. Rush nämlich ist ein Handelsname von Poppers, einem nur kurze Zeit anhaltenden Rausch auf Alkylnitrit-Basis, der Blutgefäße erweitert und Muskeln entspannt, und der vor allem in schwulen Läden konsumiert wird.
Das Video zu „Rush“, das mehr oder weniger wie ein Fußballlied klingt, fing etwas ein, das es heute eben gibt, eine queere, sexpositive aber deshalb nicht sexbesessene Szene, die weitgehend mit der Besetzung des Videos übereinzustimmen scheint. An der wiederum gab es hier und da Kritik. Zu normschön und schlank sähen die Protagonisten aus, und so wurde es zum zweifelhaften Verdienst Troye Sivans, dass heterosexuelle Menschen den Begriff Twink erlernen mussten.
Der Ursprung dieses schwulen Slangwortes liegt angeblich beim „Twinkie“, einem mit Creme gefüllten Kuchen, der sehr süß schmeckt, aber eben nicht besonders nahrhaft ist. Laut Klischee sind Twinks gay, jung, niedlich und dünn. Timothée Chalamet in „Call Me By Your Name“ wäre ein typischer Vertreter, und tatsächlich hat der Hollywoodstar in der Fernsehshow „Saturday Night Live“ einmal Troye Sivan als herumhopsenden Turnhosen-Vamp parodiert. Vom Körperbau her ging das auf.
Eine Jogginghose hat Sivan an diesem Abend wieder an, im Schritt mutig zerrissen. Auf ein T-Shirt verzichtet der Australier. Auf seiner Bühne hat überhaupt kaum jemand obenrum was an, die Show mit ihren um leuchtende Baugerüste sich windenden Tänzern ist auch eine 120-minütige Dauerwerbesendung für wenig essen und Fitnessstudios. Trotzdem bleibt alles irgendwie nahbar. Ein Troye-Konzert ist keine Überwältigungsmaschine wie eins von Madonna oder Lady Gaga (ganz so weit oben im Pophimmel ist er dann auch noch nicht angekommen).
Pop und Sex, Sex und Pop
Troye Sivan ist ein Gen-Z-Popstar mit Social-Media-Realness, kein über den Dingen schwebendes Idol. Seit seinem zwölften Lebensjahr ist der aus einer orthodox-jüdischen Familie stammende, in Südafrika geborene Australier auf YouTube und produziert, was man Content nennt. Sein Coming-out vollzog er 2013 ebendort, es wurde neun Millionen Mal angesehen, und zu seinem Song „Bloom“ halten einem die Tänzer nun ihre Rückseite entgegen, damit die Metaphern des Songs auch wirklich von jedem verstanden werden.
„I guess it’s something like a fun fair / Put gas into the motor / And, boy, I’ll meet you right there / We’ll ride the rollercoaster.“
Ist das banal? Eine bewusste Provokation? Nein, überhaupt nicht. Das Verhältnis von Pop und Sex ist eines der ständigen wechselseitigen Beobachtung. Popmusik berichtet seit jeher von Dingen, über die man früher so öffentlich nicht sprach, und dann ist „es“ auf einmal nichts Besonderes mehr, woraufhin sich Pop anderen Neuigkeitswerten zuwendet. Ränder und Szenen werden einverleibt und münden bald auch in den großen, breiten Mainstream. So wird das Repertoire des Pop um die Realitäten und Sehnsüchte des zeitgenössischen Lebens beständig erweitert, so bleibt Popmusik relevant. Dabei stellt sich mit der Zeit eine neue Normalität ein. Troye Sivan ist nämlich eigentlich ein ganz normaler 29-Jähriger. Er war ein paar Jahre in einer Beziehung und hat diese Trennung, wie man das halt so macht, künstlerisch verarbeitet.
„Das“, sagt er an anderer Stelle, „ist jetzt aber auch wirklich der letzte Song über meinen Ex.“ Das Album, mit dem er nun tourt, heißt nicht umsonst „Something to Give Each Other“. Es geht darum, was man einander geben kann, ohne sich in einer konventionell-verbindlichen Konstellation mit all ihren Problemen wiederzufinden. In anderen Worten: Es geht darum, 2024 ein Popstar und Single zu sein.
„What’s the Time Where You Are?“ handelt vom unsteten Tourleben und kurzen Begegnungen unterwegs. Im Video zu „One of Your Girls“ tritt Sivan als Drag auf, was sich im Zeitalter von Trans tatsächlich ein wenig altmodisch anfühlt. Auf der Bühne wird ihm ein Bett aufgebaut, in dem er sich dann lasziv rekeln und ihn das Publikum dafür ausdauernd bejubeln kann, entweder aus Begehren oder aus Identifikation mit dem Star.
Überhaupt das Publikum. Lauter wunderbar aussehende junge Menschen, viele Typen in Tanktops, manche in Röcken, in Sportoberteilen aus Spitze, aber auch viele junge Frauen. Es sind vor allem Mittzwanziger, die zu Troye gehen und die, wenn sie mit dem Smartphone das Konzert filmen, ihren jeweiligen Handybildschirm wie ihre große Liebe anlächeln, selbstvergessen und glücklich.
Was ist das Geheimnis dieses Popstars? Vielleicht, dass er mehr oder weniger er selbst zu sein scheint, wie man das heute gern hat. Troye Sivan pflegt keine Distanz zu seinen Fans. Er ist ganz normal schwul so, wie Billie Eilish ganz normal bi ist. Queersein ist aufregend, manchmal traurig, aber eigentlich wirklich nichts Besonderes – das in etwa vermittelt einem die Musik.
Leider ist sie selbst oft nichts Besonderes. Ein Michael Jackson oder Prince für die Gen Z ist Troye Sivan nicht, dafür wirken die meisten Songs zu aufgebacken – außen knusprig, innen fluffy, um in der Backwarenmetaphorik zu bleiben. Es sind eine Handvoll Hits für den Abend. Aber die haben es in sich.