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Literatur Hamas-Pogrom

Die literarische Aufarbeitung des 7. Oktober beginnt

Schriftsteller Ron Leshem Schriftsteller Ron Leshem
Schriftsteller Ron Leshem
Quelle: Getty Images
Der israelische Schriftsteller Ron Leshem hat durch den Hamas-Terror Verwandte verloren. Sein Buch über den 7. Oktober versucht, das Grauen zu analysieren. Für alle „Experten“ aus der Ferne hält Leshem eine besondere Botschaft bereit.
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Der Massenmord vom 7. Oktober 2023 ist einer der am umfangreichsten dokumentierten in der bisherigen Menschheitsgeschichte. Die Täter filmten sich und ihre Opfer, die Kameras in den überfallenen Kibbuzim zeichneten die Schrecken auf, und die Smartphones der Überfallenen sind voller Textnachrichten und Bilder, die das bis dahin Unvorstellbare in allen entsetzlichen Details dokumentieren. Auch als letztes Lebenszeichen, ehe die Hamas und die sie begleitenden „Zivilisten“ auch diese Kibbuzniks und friedlichen Festivalbesucher aufspürten und unter Hohn und Hassparolen massakrierten.

Und doch – gleich zu Beginn seines neuen Buches weist der 1976 in Tel Aviv geborene Schriftsteller Ron Leshem auf dieses entsetzliche Doppelspiel hin – wurden die Verbrechen des 7. Oktober nicht allein zum fortgesetzten Aufputschen der Hamas, ihrer libanesischen Hisbollah-Verbündeten und weltweiten Unterstützer gestreamt (und die Genozid-Absicht, „alle Juden“ zu vernichten, offensiv hinausgebrüllt). Sie wurden gleichzeitig geleugnet und als vermeintliche „Fake-Produktion der Zionisten“ dargestellt. Ja, selbst die aberwitzigste Täter-Opfer-Umkehr wird erfolgreich ins Werk gesetzt: Nun ist es die militärische Antwort Israels im Gaza-Streifen, die angeblich ein „Genozid“ sein soll.

Nicht zuletzt ob all dieser gewollten Konfusionen ist Leshems Buch „Feuer. Israel und der 7. Oktober“ von immenser Bedeutung: Die Strategie der Hamas – Israel militärisch und moralisch zu traumatisieren, „totale Vernichtung“ anzukündigen und sich gleichzeitig im Westen als „Stimme des unterdrückten globalen Südens“ zu gerieren – wird hier nicht nur en détail beschrieben; es werden auch die Master-Minds dahinter benannt: russische und iranische Desinformations-Experten. Ganz zu schweigen vom militärischen und digitalen Know-how aus Teheran, das über die Jahre hinweg in den Gazastreifen geliefert wurde und das es ermöglichte, in der konzertierten Aktion von Raketenangriffen, Landungsbooten, Paraglidern, blitzschnell paralysierter israelischer Überwachungs-Technologie und anschließender tausendfacher Hamas-Infiltration ein Horror-Szenario zur Realität werden zu lassen.

Ron Leshem über mordlüsterne „Zivilisten“

Ron Leshem, ein vielfach ausgezeichneter Romancier und Drehbuchautor, muss deshalb gar nichts dramatisieren und rhetorisch verschärfen. Und doch gelingt ihm in seinem Buch weit mehr als eine gebündelte Nachrichtenchronik und Terror-Analyse. Der Autor ist einer jener unzähligen Israelis, die am 7. Oktober Freunde und Verwandte „verloren“ haben – und nun, während der Krieg im Gazastreifen fortdauert und das Schicksal der verbliebenen Geiseln unsicherer ist denn je, um etwas Existentielles ringen: Wie behält man die Liebsten in Erinnerung, ohne irre zu werden angesichts all des offenbarten Schreckens?

In Ron Leshems skrupulös strukturiertem Buch gibt es deshalb auch die „Chronik eines Tages“, deren jegliches Vorstellungsvermögen sprengende Details hier an dieser Stelle nicht noch einmal beschrieben werden. Und doch sollte gerade dieses Kapitel bei der Lektüre nicht ängstlich überblättert werden: Um das, was insbesondere Frauen, Kleinkindern, Alten und behinderten Menschen bewusst und mit sadistischer, sich religiös abgesichert wähnender Freude angetan wurde, müssen wir durchaus wissen. Und wir sollten auch die Augen nicht vor der Erkenntnis verschließen, dass damals eben nicht nur uniformierte Hamas-Terroristen mit modernsten Waffen in Israel eingefallen waren, sondern in ihrem Tross – auf Mopeds, Fahrrädern oder gar zu Fuß – auch Hunderte nicht weniger mordlüsterne „Zivilisten“.

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Eine Lektion nicht zuletzt für deutsche Leser. Denn Hand aufs Herz – könnte die gängige Rede von der pauschal als „unschuldig“ dargestellten Zivilbevölkerung in Gaza nicht auch ein spätes (linkes) Echo jener (rechten) Rhetorik sein, die seit Jahr und Tag wortreich den „alliierten Bombenterror gegen deutsche Städte“ anklagt, dabei jedoch jegliche Kausalität dreist leugnet und auch von der Nazi-Gesinnung der sogenannten „unbeteiligten kleinen Leute“ so ganz und gar nichts wissen will?

Gerade aber von Verantwortung, individueller wie kollektiver, erzählt dieses Buch. Ron Leshem erinnert an seine Tante Orit, die zusammen mit ihrem Mann am 7. Oktober umgebracht wurde, nachdem sie noch kurz zuvor zusammen mit palästinensischen Frauen aus der Westbank bei einer Veranstaltung am Roten Meer für eine andere Zukunft demonstriert hatte: „‚Wir werden nicht weiter die Leichen unserer Kinder zählen‘, riefen sie dort in den Sonnenuntergang.“

Pogrome sind leider notorisch

Auch die konzentrierte Ruhe, die Orits Sohn dann selbst noch auf einem Hamas-Geisel-Video ausstrahlt (ehe er von einem Wärter abgeführt und erschossen wird), birgt für seinen Cousin Ron die Verpflichtung, in größter Klarheit über das Geschehene und dessen Vorgeschichte zu schreiben. Sowohl Leshems eigene Familiengeschichte als auch die seines Lebenspartners zeugen davon, wie vielschichtig und heterogen Israel ist: Eine Großmutter stammte aus einer Familie, die seit neun Generationen im Land ansässig war, die Eltern eines Großvaters waren bereits vor den Pogromen des Zaren hierher geflüchtet.

Die jüdische Aufbauarbeit im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina hatte dann übrigens in den 1920er und 30er Jahren dafür gesorgt, dass sich nun dort auch zahlreiche Araber aus den angrenzenden Territorien ansiedelten, was deren Bevölkerungszahl an die Höhe trieb – tragischerweise aber nicht zur logischen Einsicht führte, dieses keineswegs überbevölkerte Land jetzt gemeinsam mit den Juden weiter nach vorn zu bringen: Die Massaker von 1929 und 1936 in Jaffa und Hebron waren dann vom gleichen Auslöschungsfuror angetrieben wie der 7. Oktober.

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Ron Leshem, der mit seinem Lebensgefährten und der gemeinsamen kleinen Tochter seit zehn Jahren in Boston lebt, wo er nun mit einem äußerst effizient vernetzten antisemitischen Campus-Mob konfrontiert ist, schreibt hier ganz offensichtlich auch an die Adresse eines jungen, woken westlichen Publikums: Historisch eingebettete Fakten statt ideologischer Großerzählungen. Das ist „pro-israelisch“ im besten Wortsinn, denn selbstverständlich geht der reflektierte säkulare Linksliberale auch dann ins Detail, wenn von den seelischen Verheerungen der israelischen Westbank-Besatzung die Rede ist. Von der geradezu kriminellen Ignoranz der Netanjahu-Regierung gegenüber den Warnungen vor einem großen Hamas-Angriff. Und von den Versuchen der jetzigen Koalition, der Idee und Praxis eines modernen Rechtstaats mit Gewaltenteilung den Garaus zu machen zugunsten einer national-religiösen Autokratie.

Leshems Buch lehrt uns auch dies: Wenn es den Angehörigen der Opfer möglich ist, trotz aller emotionalen Überwältigung das Hoch-Komplexe weiterhin luzid und transparent zu benennen und zu analysieren, dann ließe sich doch von den aus größter Ferne (ver-)urteilenden Nahost-Amateur-Experten zumindest eines erwarten: ein konzentriertes Zuhören, das nicht bereits alle „Ja, aber“-Relativierungen auf der Zunge trägt. Möge Ron Leshems kluges und ehrliches Buch ein ebensolches Publikum finden.

Ron Leshem: Feuer. „Israel und der 7. Oktober“. Aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch und Markus Lemke. Rowohlt Berlin, 315 Seiten, 25 Euro

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