„Man muss sein Leben gestalten, wie man auch eine Oper gestaltet.“ Der italienische Dichter Gabriele D’Annunzio lebt exzentrisch. Er liebt den Luxus, Prunk und Rausch. Bei Fieber hilft ihm Kokain. So auch am 12. September 1919, als er bei Venedig einen roten Fiat besteigt und an den konspirativen Ort fährt, wo ihn ein Lkw-Konvoi mit 300 Soldaten erwartet. Das Ziel ihrer Operation: Fiume, das heutige Rijeka in Kroatien. D’Annunzios poetischer Staatsstreich war propagandistisch lange vorbereitet worden.
Fiume gehörte bis Ende des Ersten Weltkriegs zur ungarischen Hälfte der Habsburgermonarchie; die reiche Hafenstadt war quasi das Pendant zum österreichischen Triest und hatte rund 50.000 Einwohner, mehrheitlich Italiener (24.000), Kroaten (15.000) und Ungarn (11.000). Ach ja, Ödön von Horváth wurde hier geboren. Auf der Versailler Friedenskonferenz von 1919 sollte Fiume dem neuen Königreich der Südslawen zugesprochen werden. Was erlauben Wilson? Italienische Nationalisten, durch Südtirol, Trentino und Triest gerade gierig geworden, wüten. Sie sprechen, mit einem Schlagwort von D’Annunzio, vom „verstümmelten Sieg“.
D’Annunzio weiß um seine Wirkung. Er ist ein durch die modernen Medien bekannt gewordener Schriftsteller-Dandy – und als Flieger ein Kriegsheld. Seine berühmteste Mission führt ihn im Kriegssommer 1918 in den Himmel über Wien. Dort schmeißt er 350.000 Flugblätter ab, „WIENER!“, steht auf ihnen geschrieben. „Lernt die Italiener kennen. Wenn wir wollten, könnten wir ganze Tonnen auf eure Stadt hinabwerfen.“ Man muss sich D’Annunzio als Bomberpilot wahrscheinlich wie „Top Gun“ avant la lettre vorstellen: bis zur Selbstverliebtheit überinszeniert und letztlich auch ein bisschen hohl. Er sei ein literarischer Hochstapler, ätzen Kritiker. Aber hat nicht D’Annunzio die literarische Moderne überhaupt erst nach Italien gebracht?, fragen Fans.
Nun, in Fiume, wird D’Annunzio vom Dichter zum Demagogen: Von September 1919 bis Weihnachten 1920 regiert er die Stadt als Faschistenkommune. Er tut das mit Kriegskameraden, Freischärlern und anderen vom Frieden gelangweilten Italienern. Namentlich die sogenannten Kühnen (Italienisch: arditi) wirken wie eine Vorhut aus Klaus Theweleits Buch „Männerphantasien“. Sie tragen Fes-Mützen, die später zum Markenzeichen des italienischen Faschismus werden, und schwarze Hemden mit weißen Totenschädeln, wie sie die späteren Uniformen der deutschen Waffen-SS kennzeichnen.
Die internationale Gemeinschaft ließ den Dichter D’Annunzio und seine Leute bis Weihnachten 1920 in Fiume machen. Die Melange aus Personenkult, Größenwahn und Manipulation der Massen durch Ästhetik und Rhetorik schaute sich Mussolini bei D’Annunzio ab, bevor er 1922 nach Rom marschierte und dem Dichter noch zu Lebzeiten ein Mausoleum am Gardasee baute. Es konnte nur einen Duce geben.
Zum 100. Jahrestag des Staatsstreiches von Fiume beschreibt der Historiker Kersten Knipp in seinem klugen Buch „Die Kommune der Faschisten“ als Vorboten der Blumenkinder und 68er-Bewegung. Tatsächlich zog Fiume einen bestimmten Typus Sinnsucher und Spinner an, der im weiteren 20. Jahrhundert wiederholt auftauchte. Bestes Beispiel ist der Abenteurer Guido Keller, ein Pilot, der Flugzeuge zum Fetisch erklärte und meist nackt durch die Gegend lief. Briefe unterschrieb er mit „Zarathustra“. Überflüssig zu erwähnen, dass Gabriele D’Annunzio sich qua Name als messianische Gestalt sah. Gabriel, der Engel der Verkündigung, und Annunzio (Verkündiger), das konnte für einen Dichter doch kein Zufall sein.
Alles Schriftstellerleben sei Papier, heißt es. In dieser Reihe treten wir den Gegenbeweis an.