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Literatur Zweiter Weltkrieg

Ein deutscher Jude wird in Holland zum Dichter

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Hans Keilson im Jahre 1996. Damals lehrte der 86-jährige noch als Gastprofessor an der Gesamthochschule Kassel Hans Keilson im Jahre 1996. Damals lehrte der 86-jährige noch als Gastprofessor an der Gesamthochschule Kassel
Hans Keilson im Jahre 1996. Damals lehrte der 86-jährige noch als Gastprofessor an der Gesamthochschule Kassel
Quelle: picture-alliance / dpa
Hans Keilson beschloss im besetzten Amsterdam, unterzutauchen und für die Résistance zu arbeiten. Sein Tagebuch von 1944 zeigt einen jungen Mann in der Zerreißprobe. Ein atemberaubendes Dokument.

Man schreibt den 9. Dezember 1944. Frankreich ist seit einem reichlichen Vierteljahr die deutschen Besatzer los. Die Niederlande hingegen sind noch nicht befreit. Im Gegenteil. Die Drangsalierung der Bevölkerung wird immer schlimmer. Für den untergetauchten Juden Hans Keilson, der drei Tage später 35 Jahre alt werden sollte, spitzt sich die Situation dramatisch zu. Er notiert in seinem Tagebuch: „Auf der Straße und im Park patrouilliert die grüne Polizei. Man hört in kurzen Unterbrechungen Schießen. Menschenjagd in Delft. Seit Tagen, Wochen sind wir auf dieses Signal vorbereitet. In den Wandschrank gekrochen. Bisher war ich untergetaucht, aber ich bewegte mich wie ein Normaler auf der Straße. Jetzt werde ich richtig verschwinden müssen. Im Hause.“

Und so geschieht es. Später wird er aus dieser Situation sein bekanntestes Buch destillieren, die Langerzählung „Komödie in Moll“. 2010 erreichte sie das amerikanische Publikum und wurde, was der damals Hundertjährige noch erleben konnte, ein Weltbestseller. Aber die Keimzelle zu diesem kühn ins Burleske gedrehten Text, der die Schwierigkeiten im Umgang mit einem Untergetauchten schildert, der hinter seinem Holzverschlag an einer Erkältung stirbt, – diese Keimzelle findet sich hier. Als Lebenszeugnis in Echtzeit gewissermaßen. Denn Hans Keilson hatte in seinem eigenen Versteck bei einem Delfter Ehepaar sein Tagebuch dabei, das er von März bis Dezember 1944 regelmäßig mit Notaten füllt. Er bedient sich dabei gewöhnlich eines Füllfederhalters. Nur während dieser Razzia greift er ausnahmsweise mal zum Bleistift.

Hans Keilsons Tagebuch hat sich erst im Nachlass des 2011 im Alter von fast 102 Jahren gestorbenen Dichters und Psychoanalytikers gefunden. Seine Witwe Marita Keilson gibt es jetzt heraus. Es handelt sich um ein vollkommen einzigartiges Dokument. Denn es beschreibt nicht nur den Alltag eines Gejagten, der immer wieder Todesangst auszustehen hat. Es bildet auch die Gewissenserforschung eines Schriftstellers ab, der noch im Werden ist (seit seinem literarischen Debüt kurz vor Toresschluss, Januar 1933, im Verlag von S. Fischer hat er nur vereinzelte Gedichte publiziert).

Zwischen zwei Frauen

Das Tagebuch zeigt darüber hinaus einen politischen Widerstandskämpfer, der in seinem Herzen noch einen anderen Kampf auszufechten hat: den zwischen zwei Frauen, zu denen er sich gleichermaßen intensiv, wenn auch auf unterschiedliche Weise hingezogen fühlt. Die eine ist der Mensch, der ihn aus Nazi-Deutschland gerade noch rechtzeitig nach Holland lotste und Mutter seines ersten Kindes, die nichtjüdische deutsche Graphologin Gertrud Manz. Die andere eine 22-jährige Patientin: Hanna Sanders, ebenfalls untergetauchte holländische Jüdin, die über den Verlust der Eltern und des Elternhauses beim Bombardement von Rotterdam nicht hinwegkommt. Sie wird später „Komödie in Moll“ ins Niederländische übersetzen.

Wenn es jemals einen explosiven Moment im inneren wie im äußeren Leben eines angehenden Schriftstellers gegeben hat, dann war es also die Zerreißprobe, durch die Hans Keilson 1944 ging. Jede Zeile dieses aufwühlenden Textes spricht davon. Selten hat man es mit einem Buch zu tun, das einem so direkt die fast nicht auszuhaltende innere Spannung vermittelt, unter der die Verfolgten des Nazi-Regimes in der Endphase des Dritten Reiches gestanden haben müssen. Denn in der zweiten Jahreshälfte 1944 zeichnet sich der Untergang des Verbrecherregimes ja bereits ab, scheint nach der Landung der Alliierten in der Normandie sogar zum Greifen nahe. Jedoch: Wer von den Opfern wird es noch erleben? Wer wird eines Tages – wie es mit herzzerreißender Schlichtheit auch auf diesen Seiten immer wieder einmal heißt – „nach Hause gehen“ können? In welches Haus im übrigen? Und wen wird er dort antreffen?

Doch zu den Wundern, die auch im finstersten Dunkel die menschliche Natur für den Einzelnen bereit hält, gehört sein Vermögen, über das, was ihm an Schrecklichkeiten widerfährt, zu reflektieren. Und auch das zählt zu den Besonderheiten dieses Buches, dass dieses Wunder sich für Hans Keilson ebenfalls immer wieder ereignet. Man mag es fast nicht glauben, aber kurz nach den oben zitierten Sätzen, in der vermutlich größten Gefahr für Leib und Leben, in der er sich während des gesamten Krieges befand, ausgerechnet da also macht seine Vorstellungskraft die abenteuerlichsten Sprünge. Was, wenn er sich nun doch zum Arbeitsdienst nach Deutschland meldete? Er weiß sich ja im Besitz eines hervorragend gefälschten Passes. Der lautet auf den Namen Dr. Johannes Gerrit van der Linden, geboren in Niederländisch Indien. „Gute Behandlung, Verpflegung und Rauchwaren werden denen zugesagt, die sich melden“, liefert Keilson da in seinem Versteck der inneren Stimme Argumente.

Übersprudelnd vor Ideen

Und dann schweift die Fantasie noch weiter aus: „Wie wäre es, wenn ich es doch täte? Und unterginge. Ich kannte die Deutschen so gut, als ich wegging. Sie waren damals so im Siegesrausch, und ich so niedergeschlagen. Wenn ich sie jetzt wiederträfe, – was haben sie hinter sich. Es wäre die furchtbarste Rache, die ich mir denken könnte, unerkannt unter ihnen zu weilen und ihren Weg, der nach abwärts führte, aus ihren Gesichtern abzulesen. Es wäre der größte Genuss, der denkbar ist.“

Hans Keilson hat sich dann natürlich gegen den „Arbeitseinsatz“ entschieden – sowie, als Schüler Sigmund Freuds – gegen die „Rache“. Er beginnt vielmehr, was dieses Tagebuch gleichzeitig belegt, den Keim zu legen zu seinem staunenswerten Verstehensversuch des nationalsozialistischen Antisemitismus aus dem Geist der Psychoanalyse, der in sein vielleicht bedeutendstes Werk, den Roman „Der Tod des Widersachers“, münden wird. Dort versucht er die Judenverfolgung als nach außen projizierten deutschen Selbsthass zu deuten. Kurzum, und auch das macht dieses Document humain so wertvoll: Es zuckt im Gehirn dieses 35-Jährigen förmlich vor Ideen, vor schreiberischer Produktivität. Davon zeugen nicht zuletzt auch die im Anhang abgedruckten 46 Sonette an Hanna.

Es findet aber auch eine unablässige Auseinandersetzung mit anderen Schriftstellern statt, mit Baudelaire, mit Dostojewski, mit Rilke, Kafka, ja sogar Céline und ihren ästhetischen Positionen. Und immer stärker formiert sich dabei ein geistiges Selbstverständnis, das dem Leben Priorität einräumt vor der Kunst. Der Verehrer Thomas Manns und leidenschaftliche Leser seines „Tonio Kröger“ verwirft nicht nur das l’art pour l’art; er verabschiedet sich auch von der Vorstellung, ein „Bürger auf Abwegen“ zu sein. Mit der dialektischen Volte, das „Sicherheitsgefühl des Unsicheren“ zu bejahen, sieht er sich jetzt eher als einer, der „sein Sach’ auf nichts gestellt“ hat und legt sich selber folgendermaßen fest: „Ich weiß, dass ich ein Dichter bin und ein Schlemihl – aber mein Ziel ist Arzt.“

Weiter Weg zum Ziel

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Hans Keilson hat sicher im Dezember 1944 noch nicht geahnt, wie weit der Weg zu diesem Ziel noch sein würde. Wie lange es überhaupt dauern würde, bis er im Leben seinen Platz zu finden vermochte. Seinen medizinischen Doktortitel erwarb er erst als Siebzigjähriger. Als Schriftsteller setzte er sich – dank der Einrichtung der „Schwarzen Reihe“ im S. Fischer Verlag, die sich den Vertriebenen und Verfemten des Dritten Reiches widmete – im Grunde erst als Achtzigjähriger durch. Die großen Ehrungen und Preise (darunter auch der „Welt“-Literaturpreis) erhielt er dann als Neunzigjähriger. Der Weltruhm kam, als er hundert geworden war.

In diesen späteren Jahrzehnten standen weder Hanna noch Gertrud mehr an seiner Seite. Noch im Dezember 1944, das deutet sich auf den letzten Tagebuchseiten an, fiel seine Entscheidung für die Mutter seines Kindes, Gertrud. Die wiederum starb 1969. Seitdem war bis zu seinem Tod Marita um ihn, die er 1971 heiratete. Sie ist eine bekannte Literaturwissenschaftlerin, die viel zu Stefan George und zur Geschichte der Schwulenbewegung publiziert hat. Jetzt schreibt sie: „Als Literaturhistorikerin habe ich immer gedacht, dass Dichterwitwen ein absolutes Hindernis auf dem Wege zu einem Dichter und seinen Texten sind. Jetzt sitze ich da und schreibe ein Vorwort. Wer hätte das gedacht.“

Mit viel Humor reagiert sie auch auf die Frage, die man nun nicht umhin kann, ihr zu stellen: Ob sie eigentlich gewusst hat, wie sehr ihr Mann einst zwischen zwei Frauen schwankte? Dazu erklärt sie ganz gelassen: „Hans hat immer eine große Anziehung auf allerlei Frauen ausgeübt. Das blieb auch im Alter so. Dass er seinerseits so für Hanna entflammt war, hat mich dann allerdings doch überrascht, denn davon hat er nie etwas erzählt. Ich dachte auch, dass die Sonette aus der Kriegszeit, die ich kannte, sich auf Gertrud bezogen, nicht auf Hanna. Und nun empfinde ich es ein bisschen als Wiedergutmachung gegenüber der damals Verlassenen, dass Hanna mit dieser Veröffentlichung aus der Vergangenheit wieder auftaucht. Es ist ganz wunderbar für mich, dass ich auf diese Weise etwas für ihr Andenken tun kann.“

Schlemihl-Image als Überlebensmittel

Apropos Überraschung: Wer das Glück hatte, Hans Keilson auch nur ein wenig zu kennen und ihn in seinen späten Jahren zu erleben, der kann nur staunen, wie viel von dem, was den alten Menschen ausmachte, bereits in dem gehetzten, hin- und hergerissenen jungen Mann steckt, der sich im Tagebuch zu erkennen gibt. Das hohe humanistische Ethos, der Abscheu vor jeglicher Form von „Literaturbetrieb“, die metaphysische Seinsverankerung, ein hohes Maß an Empathie für Schwache, Kranke, Traurige, aber dann auch wieder der hellwache Sinn für das Kuriose, auch Komische in den menschlichen Begegnungen – das alles ist so prächtig ausgebildet, artikuliert sich so unverkennbar keilsonisch, dass man bei der Lektüre nicht nur den 35-Jährigen vor sich sieht, sondern auch den Neunzigjährigen, der ja auf seine Weise immer noch mit jenem Schlemihl-Image kokettierte, das er sich einst als Überlebensmittel zugelegt hatte.

Marita Keilson ergänzt: „Man findet hier den Hans Keilson, den man kannte, jedoch erweitert und vertieft. Er wird stärker durch diesen Text.“ Einen Text, mit dem man nicht nur diesen eindrucksvollen Menschen, sondern eine ganze Epoche besser versteht.

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