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Hans Keilson – Mit 100 Jahren zum Bestsellerautor

Schriftsteller Hans Keilson Schriftsteller Hans Keilson
Wach und weise: So blickt Hans Keilson, der 2011 102 Jahre alt wird, noch immer in den Tag
Quelle: picture-alliance/ ZB/dpa-Zentralbild/Soeren Stache
Geboren an der Oder, gerettet in den Niederlanden: Endlich hat "Welt"-Literaturpreisträger Hans Keilson seine Memoiren geschrieben.

Wer beinahe ein Jahrhundert auf dem Buckel hat, sagte Hans Keilson 1999 bei seiner Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, der sollte sich kurz fassen. Nicht nur, weil mit zunehmendem Alter die Zeit knapper wird; auch die Höflichkeit gebietet es, seine Mitmenschen nicht zu langweilen. Hans Keilson war immer ein höflicher Mensch, und so wie der 90-jährige in Darmstadt biografische Ausschweifungen vermied, präsentiert er jetzt, mit sagenhaften 101 Jahren, auch seine Erinnerungen in knappster Form: auf hundert Seiten.

Wer als Jude in der Mitte Europas die Verfolgungen überlebt habe, müsse sich, wenn er zurückblicke, streng an den Kalender halten, heißt es im ersten Satz. „Am 12. Dezember 1909 wurde ich in Freienwalde an der Oder geboren.“ Schon nach wenigen Seiten wird klar, dass sich diese Perspektive nicht durchhalten lässt. Denn wovon soll man zuerst berichten?

Von der Begeisterung des Knaben für Otto Gebühr in der Rolle Friedrichs des Großen? Von der unverhohlenen Abneigung der orthodox lebenden Mutter gegen jene an den Wochenenden einfallenden Glaubensgenossen aus Berlin, die im Kurpark ihren Reichtum zur Schau trugen? Davon, dass es in der Stadt keine jüdischen Mädchen im richtigen Alter gab und man im Religionsunterricht von Kantor Trachtmann manchmal der einzige Schüler war? Am Ende des Jahrhunderts, als an der Stelle der ehemaligen Synagoge ein Gedenkstein aufgestellt wurde, war Keilson wieder der einzige Jude in Freienwalde, angereist aus Holland.

Die Bürger von Freienwalde hatten sich schon 1688 beim Kurfürsten beschwert, dass die Juden nichts arbeiteten, sondern durch Wucher und Hehlerei ihre Existenz bestritten. Das Dokument wird in Kapitel 5 zitiert. Kapitel 6 umfasst nur eine Seite: „Viele Wege führten aus Freienwalde durch Mischwälder und über sanfte Hügel zu Gaststätten in den umliegenden Dörfern und zum Baasee.“ Geschildert werden die sonntäglichen Spaziergänge der Familie, auf denen die Kinder vorauseilten und Beeren pflückten.

Die Eltern starben in Birkenau

„Worüber sich meine Eltern unterhielten, weiß ich nicht. Damals meinten sie noch, ihre Sorgen meistern zu können. Aber selbst wenn sie schweigend, jeder seinen Gedanken nachsinnend, nebeneinander liefen und mein Vater, mit seinem Wanderstock ausholend, halbrunde Kreise im Sande zog, boten sie das Bild einer Einheit, die selbst der Tod nicht scheiden sollte. Ihr Leben wurde gemeinsam in Birkenau beendet.“

Mehr geht nicht. Das 20. Jahrhundert zählt nun einmal nicht zu den einfachen Jahrhunderten, die sich chronologisch erzählen lassen. Sollen sich in der Biografie die epochalen Verwerfungen widerspiegeln, dann hilft der Kalender nur bedingt. Wer verstehen will, wie Einzelschicksal und Zeitgeschehen ineinander greifen, darf weder Zeitsprünge noch Gegenüberstellungen fürchten.

Am Ende bleiben bestimmte Orte, an denen die Erinnerung sich festmacht. „Die Landschaft, in der man geboren und aufgewachsen ist, kann man nicht hassen“, heißt es nüchtern. Als Hans Keilson 1936 ins Exil ging, bedeutete dies den Abschied von Freunden, Hoffnungen, Sicherheiten und eben auch den Abschied von der märkischen Oder-Landschaft.

Ist Heimat da, wo man geboren wurde oder wo man zu sterben wünscht? Die Frage, die Zuckmayers Lebenserinnerungen leitmotivisch durchzieht, treibt auch Keilson um. Jedes Sein, so habe er bei Scholem gelesen, sei ein Sein in der Fremde. Als „ehemaliger deutscher Jude“ pflege er zwar „noch immer ein gewisses Einverständnis mit der deutschen Sprache“, aber in einer ihr fremden Umgebung entwickelt sich die Sprache nun einmal nicht fort, und so musste sich Keilson nach dem Krieg in zweifacher Hinsicht, als Jude und als Schriftsteller, zu den Ausgestoßenen zählen.

2010 wurde er auf einmal weltberühmt

Dass er 1933 mit seinem Erstling „Das Leben geht weiter“ der letzte jüdische Debütant des alten Fischer-Verlags gewesen war, wurde zur gern erzählten Anekdote, die aber nur die Endgültigkeit unterstrich.

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Und dann geschah doch noch das Wunder. Im Sommer 2010 Jahres wachte Hans Keilson eines Morgens auf und war weltberühmt. Hundertjährigen passiert das nicht oft, oder besser gesagt, Hundertjährige sind, wenn der Erfolg sie einholt, in der Regel meist tot.

Ausgelöst durch einen Artikel der „New York Times“ am 5. August, machte sich weltweit Begeisterung breit, ein Interview jagte das andere, und innerhalb nur weniger Wochen waren Lizenzen der drei Keilson-Romane rund um den Globus verkauft. Niemand hat diesen Erfolg mehr verdient, niemand weiß ihn stiller zu genießen als er.

Die Seele eines Seelenarztes

Im Anhang zu den Erinnerungen ist ein Gespräch zwischen Hans Keilson und dem Herausgeber Heinrich Detering abgedruckt. Auf die Frage, ob er denn nie die Rückkehr nach Deutschland erwogen habe, gibt Keilson, der sich nach dem Krieg als Psychotherapeut in Holland etablierte, eine verblüffende Antwort, die tief in die Seele dieses Seelenarztes blicken lässt.

Da die Deutschen ihm gegenüber wohl immer ein Schuldgefühl hätten, wäre es ihm unmöglich, seinen Beruf in Deutschland auszuüben. Die Erkenntnis, dass einen vor allem die Projektionen krank machen, die man auf seine Feinde überträgt, sei die eigentliche Leistung Freuds gewesen. Er, Hans Keilson, habe sich immer dagegen gewehrt, sich so zu sehen, wie die Deutschen ihn, den Juden, sehen wollten. Und das müsse auch umgekehrt gelten, „weil der Hass eine selbstvernichtende Doktrin ist“.

"Die Straße hinauf ... da steht mein Haus"

Keilson ist in den 75 Jahren, die er nun in den Niederlanden lebt, Holländer geworden. Ist er dort auch zuhause? Dazu eine Geschichte, die er im Abspann erzählt: Ein Dreikäsehoch auf einem Skateboard (Keilson schreibt „Laufplanke“) fährt ihm beim Spaziergang durchs Viertel beinahe zwischen die Beine. „Du bist alt“, ruft der Knirps. „Und du bist noch jung“, entgegnet Keilson. „Ich bin drei“, sagt der Junge selbstbewusst. So geht es einige Sätze hin und her, bis der Junge schließlich fragt, wo der Alte denn wohne. „Hier geradeaus und dann links die Straße hinauf … da steht mein Haus.“

Das Haus steht da, kein Zweifel, sein Besitzer ist schon vor vielen Jahrzehnten dort angekommen, bis vor kurzem gingen die Patienten dort noch ein und aus. Und dennoch. Stünde das Haus in Bad Freienwalde, unweit der alten Synagoge, würde sich die Frage nach dem Woher und Wohin, die Frage nach dem Zuhause überhaupt gar nicht stellen.

Hans Keilson: Da steht mein Haus. Mit einem Gespräch mit Heinrich Detering. (S. Fischer, Frankfurt/M. 144 S., 16,95 €).

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