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Literatur Verstorben

Hans Keilson – ein Mann der Trauer, nicht des Hasses

Leitender Feuilletonredakteur
"WELT"-Literaturpreis an Hans Keilson "WELT"-Literaturpreis an Hans Keilson
Der Schriftsteller Hans Keilson bei der Verleihung des "Welt"-Literaturpreises 2008
Quelle: picture-alliance/ dpa/dpa-Zentralbild
Im Alter von 101 Jahren starb der Schriftsteller Hans Keilson. Kurz vor seinem Tod wurde der "Welt"-Literaturpreisträger noch Bestseller-Autor in Amerika.

Von guten Mächten wunderbar geborgen – das war es, trotz allem, das unerhört reiche und bewegte Leben des Hans Keilson. Am 31. Mai 2011 hat es, ein halbes Jahr vor Keilsons 102. Geburtstag am 12. Dezember, seine weitausgreifende Bahn im Krankenhaus von Hilversum vollendet.

Ein Leben, das unter günstigen Auspizien für das deutsch-jüdische Zusammenleben 1909 in der "Welt von gestern" zu Bad Freienwalde bei Berlin begann und an einem Zeitpunkt endete, da dieses Zusammenleben schon lange nicht mehr von radikalisierter deutscher Seite bedroht wird, sondern von einem globalen Feind. Ein Leben, das in den Jahren nach 1933 jeden kontinuierlichen Entwicklungsgang auszuschließen schien und dann doch gerade in allerletzter Zeit zu einer glanzvoll harmonischen Rundung sich fügte.

Ein glückliches Leben

Ein Leben, nehmt alles nur in allem, das man sich glücklicher, geschlossener kaum vorstellen kann. Zuletzt noch, in fast burlesker Volte, gekrönt vom Siegeszug quer durch die Kontinente – und das mit Werken, deren Entstehung und Vollendung über ein halbes Jahrhundert zurücklagen.

So paradox es auch klingen mag: Nie war er so lebendig, nie so stark auf dem Buchmarkt präsent, nie so sehr in aller Munde der literarisch und historisch Interessierten wie in dem Moment, da die Kräfte ihn allmählich still und sanft verließen – Hans Keilson mit seinem feinen Humor hat es selbst am meisten amüsiert.

"Da steht mein Haus", der letzte noch vollendete Text wurde von seinem angestammten Verlag, in dem er 1933 (noch vor dem Machtantritt der Nazis) debütierte, seine Erinnerungen also wurden vom S. Fischer-Verlag vor zwei Monaten ausgeliefert.

Er fand alles "kurios"

Da zählte der Verfasser 101 Jahre. Nahezu blind und auch schon recht wacklig auf den Beinen, aber von großer geistiger Frische und Neugierde, fand er all das, was jetzt mit ihm geschah, nur noch "kurios", einschließlich des Diktums, er sei ein "Genie", das am 5. August 2010 in der "New York Times" gestanden hatte – und freute sich daran.

Wie er ohnedies mit den Jahren immer heiterer wurde. Als ich ihn vor fast zwanzig Jahre kennenlernte, konnten den eloquenten, witzigen und kommunikationsfrohen alten Herrn, der er ja auch schon damals war, durchaus noch Bitterkeit und Schmerz überkommen. Schmerz, wenn vom schrecklichen Schicksal der Juden im 20. Jahrhundert die Rede war, dem er so knapp entkommen war.

Er hatte sich auf Geheiß seiner ersten Frau 1936 nach Holland gerettet und auch die deutsche Besatzung des Landes, in dem er so überraschend schnell heimisch wurde, in der niederländischen Résistance nur wie durch ein Wunder überlebt. Seine Eltern jedoch, die er nach dem Novemberpogrom von 1938 noch aus Deutschland herauszulotsen vermochte, hat die Nazi-Barbarei ins Gas getrieben. Wie hätte er dies je vergessen und verwinden sollen?

Anfangs wurde Keilson verkannt

Und Bitterkeit konnte sich seinerzeit bisweilen deshalb bei ihm einstellen, weil sein literarischer Rang hierzulande noch durchaus nicht erkannt wurde. Zwar waren seine drei großen Erzählwerke wieder lieferbar. Aber er blieb ein Geheimtipp. Die deutschen Leser zeigten sich vor fünfzehn, zwanzig Jahren noch nicht reif für die Reize der Keilsonschen Lyrik und Prosa.

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Sie konnten die düstere Epochenzeichnung seines Romans über den Niedergang des väterlichen Geschäfts in der Weltwirtschaftskrise ("Das Leben geht weiter", 1933) großenteils genauso wenig wertschätzen wie die makabere Lustspielsituation aus "Komödie in Moll" von 1947, mit der Keilson seine Erfahrungen als Arzt und Kurier im Widerstand verarbeitete. Und endgültig überfordert waren sie vom "Tod des Widersachers", der psychoanalytisch grundierten Parabel, in welcher sich der längst als Psychotherapeut praktizierende Autor 1959 an der Pathologie des deutsch-jüdischen Verhältnisses abarbeitete.

Mit seinen Untersuchungen zur "sequentiellen Traumatisierung" von überlebenden jüdischen Kriegswaisen hatte Keilson es hingegen leichter. Sie erlebten sofort nach Erscheinen 1979 einen durchschlagenden internationalen Erfolg.

Mit Welt-Literaturpreis geehrt

Doch das literarische Deutschland lernte dazu. Es überwand peu à peu seinen Musterschüler-Modernismus und öffnete sich den paramodernen Erzählformen, derer sich Hans Keilson stets bedient hat.

Nun häuften sich, seit Mitte der Neunzigerjahre, die Gastprofessuren, Ehrungen, Würdigungen. Die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung "bemerckte" ihn, wie er es launig nannte (will sagen: zeichnete ihn mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis für Essayistik aus), der "Welt"-Literaturpreis wurde ihm zuerkannt, sein belletristisches Werk erschien in einer zweibändigen Gesamtausgabe, um nur diese drei Stationen von Hans Keilsons "Alterskarriere" anzuführen.

Da er jedoch vor allem als "Zeuge des Jahrhunderts" wahrgenommen wurde, interessierte natürlich nicht zuletzt sein Verhältnis zum deutschen Zivilisationsbruch. Hans Keilson hat Deutschland schon früh nach 1945 wieder bereist, doch seinen Wohnsitz hier nicht wieder genommen. Er hielt dem Land, das ihm einst das Leben rettete, die Treue.

In Holland, genauer gesagt in Amsterdam und den dortigen Redaktionsräumen der Exilzeitschrift "Castrum Peregrini" lernte er 1970 seine zweite Frau kennen, die ebenfalls aus Deutschland stammende Literaturwissenschaftlerin Marita.

Ein Mann der Trauer

Mit ihr zusammen nährte er sich nach der Wende auch seinem Geburtsort wieder an und stimmte gerne zu, als dieser seine Stadtbücherei nach ihm benennen wollte, obwohl er hier auf dem Gymnasium seine ersten Ausgrenzungserfahrungen als Jude machen musste.

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Er hatte im Deutschunterricht Heinrich Heines Revolutionsgedicht "Die schlesische Weber" als Lieblingstext ausgewählt und interpretiert, woraufhin er in den "Klassenschiss" geriet. Bis zum Abitur sprach die Mehrzahl seine Klassenkameraden nicht mehr mit ihm.

Jedoch: "Die Landschaft, in der man geboren und aufgewachsen ist, kann man nicht hassen", schreibt Hans Keilson in seinen Memoiren. Überhaupt war er ein Mann der Trauer, nicht des Hasses. Der freudianische Imperativ: "Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten" war sein Credo. Es hat ihn zur Versöhnlichkeit bestimmt. Dazu gesellte sich die ebenfalls aus der Psychoanalyse abgeleitete Überzeugung, die Deutschen hätten sich durch die Verfolgung der Juden selbst am meisten beschädigt; ihr Judenhass sei immer Selbsthass gewesen, mithin ein deutsches, kein jüdisches Problem – und krank.

Er selber, Hans Keilson, aber wusste sich gesund. Und mit dem Bewusstsein dieser Gesundheit konnte er, der Arzt, seine Heilerfolge erzielen. Konnte er, der Schriftsteller, durch künstlerische Gebilde erleuchten. Konnte er, der Mensch, kraft seiner schieren Gegenwart bereichern und beglücken. Und das wird bleiben.

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