„Action is character“, lautet ein Sprichwort des Geschichtenerzählens, besonders im Film. Die Figuren sind, was sie tun. Wenn das Prinzip allerdings auf die Spitze getrieben wird, löst es sich auf, und zwar in der Figur des Stuntman. Er ist Hollywoods unbesungenster Held. Stürzt aus jedem Fenster, überschlägt sich mit dem Auto, springt über Dächer, fängt Feuer und ertrinkt. Er hat tausend Gesichter – und bleibt doch namenlos.
Er – oder sie, denn Stuntfrauen gibt es natürlich auch – geht, im Gegensatz zu den Stars, die er doubelt, sobald es brenzlig wird, unbehelligt shoppen. Kein Paparazzo blinzelt auch nur, wenn er vorübergeht. Kein Oscar ist ihm je verliehen worden, es sei denn, er heißt Jackie Chan und ist längst selbst zum Star geworden.
Auch Tom Cruise bekommt jede Menge Anerkennung dafür, dass er persönlich auf den höchsten Wolkenkratzer kraxelt und sich per Motorrad in alpine Schluchten katapultiert. Oder zu Beginn des Kinos Buster Keaton, den man im Internet Sachen machen sehen kann, die einem noch hundert Jahre später das Blut in den Adern gefrieren lassen.
Offenbar gibt es also schon ein erhebliches Respektspotenzial für die todesverachtenden Teufelskerle, die im Laufe ihrer Karriere statt Preisen Knochenbrüche sammeln. Es mangelt bloß an einem etablierten Resonanzraum, in dem es sich entfalten könnte. In der Ständegesellschaft Hollywoods gehört der Stuntman zum Fußvolk. Er wurde so selten geadelt, dass man es an fünf bandagierten Fingern abzählen kann.
Ryan Gosling war fleißig pumpen
Eigentlich fallen einem nur zwei große Hommagen an einen geprellten Beruf ein: „Hooper“ von 1976, in dem Burt Reynolds ein raketenbetriebenes Auto über eine gesprengte Brücke jagt. Und „Once Upon A Time … in Hollywood“ von 2019, wo Brad Pitt mit der für Stuntmen typischen Mischung aus Coolness und Understatement Leonardo DiCaprios selbstbesoffene Dramaqueen an die Wand spielt.
Eine ähnliche Konstellation steht auch im Zentrum von „The Fall Guy“, der bis dato umwerfendsten Kino-Liebeserklärung an den Stuntman. Es gibt einen egomanen Supernarzissten namens Tom Ryder (Aaron Taylor-Johnson), der damit prahlt, seine Stunts selber zu machen (ein Schelm, wer hier an seinen realen Fast-Namensvetter denkt). Und eben seinen Gegenpart, der zwar in jeder Szene, in der er spielt, das gleiche Kostüm anhat wie der umschwärmte Hauptdarsteller, dabei aber als so ersetzbar gilt, dass ihn die Produzenten kalt als Verfügungsmasse betrachten.
Wie in den obigen Beispielen ist der Witz für die Zuschauer in der realen Welt einmal mehr, dass dieser vermeintlich verachtete Nobody von einem der größten Stars der Gegenwart verkörpert wird: Ryan Gosling, dem geborenen Schwiegermutterliebling, der sein Portfolio seit Jahren geschickt erweitert, sodass er längst mühelos von Frauenschwarm auf Killer-Androide und von eiskalt auf superwitzig schaltet. Selbst dem undankbarsten Sidekick der Spielzeughistorie, Barbies Ken, hauchte er unlängst Leben ein.
Seitdem ist er fleißig pumpen gegangen, sodass sogar nach einem Rückgratbruch, der zu Anfang der Handlung seiner Karriere ein jähes Ende zu setzen droht, die Muskeln glitzern. Gosling schiebt in aktuellen Interviews die neue Gewichtsklasse auf die australischen Burritos, die er sich während des sechsmonatigen Drehs down under genehmigt habe, auch darum, wie er sagt, weil seine Figur, der Stuntman Colt Seavers, nun mal kein Kostverächter sei.
Der neue Colt Seavers
Colt Seavers? Moment mal, sprechen wir hier von dem Colt Seavers, der in „Ein Colt für alle Fälle“ in den Achtzigern einen GMC-Pickup-Truck nach dem anderen verschliss? Der so eine coole Socke war, dass er gleich, in Gestalt des Stuntman Lee Majors, den eigenen Titelsong einsang? Und tatsächlich, in dem Moment, wo einem das klar wird – also, wenn man es nicht schon vorher in der Zeitung gelesen hat – röhrt sonor der Country-Klassiker aus den Boxen: „I might fall from a tall building, I might roll a brand-new car, / ’cause I’m the unknown stuntman that made Redford such a star.“ Bloß singt in der upgedateten Version nicht mehr Majors, sondern es handelt sich, wie insgesamt beim neuen Film, der den gleichen Titel trägt wie die Serie damals im Original, „The Fall Guy“, um ein zeitgenössisches Update.
Der neue Colt Seavers ist zum Beispiel nur noch ein halber Macho. Er hadert mit tradierten Harte-Männer-Klischees, bringt etwa keine Entschuldigung über die Lippen, als er nach dem Unfall am Set seine Freundin, die Kamerafrau Jody Moreno, ghostet. Aber eben nur, weil ihm jedes „Sorry“ als zu schwach und kläglich erscheint. Gleichzeitig hat er mehr Humor als sein Eighties-Ahn, der zwar spielend über jede Mauer hüpfte, in der Disziplin Wortwitz aber erstaunlich hüftsteif wirkte, wie man sich auf YouTube, wo viele der alten Folgen zu sehen sind, jederzeit überzeugen kann.
Eine unglaublich lustige Szene findet die beiden Ex-Liebenden vereint am neuen Filmset. Jody ist zur Regisseurin avanciert, Colt hat sich ihretwegen von seinem Interims-Job als Parkplatzwächter aufgerafft, dessen Höhepunkt darin bestand, in fremden Ford Mustangs mit qualmenden Reifen Donuts zu drehen. „Hey, Fall Guy“, riefen ihm irgendwelche Idioten höhnisch zu und warfen die Schlüssel rüber. Jetzt steht er also da im australischen Outback, und Jody erklärt ihm die Story.
„Metal Storm“, offenbar ein Amalgam aus „High Noon“ und „Star Wars“, handelt von einem exzentrischen Cowboy, der sich in eine Alien-Dame verliebt. Anhand der Handlung analysiert Jody mehr oder weniger subtil ihre eigene traurige Liebesgeschichte. Und lässt den unverhofft zurückgekehrten Ex-Lover zur Strafe die Einstellung, in der er lichterloh brennend gegen einen Felsen knallt, zigmal wiederholen.
Barbenheimer, endlich vereint
Emily Blunt spielt diese verletzte, aber stolze Jody mit gewohnter Grandezza. Ein glücklicher PR-Stunt macht sich zunutze, dass sie und Gosling im inszenierten Barbenheimer-Wettstreit des vergangenen Sommers auf verschiedenen Seiten standen und nun in „The Fall Guy“ vereint sind. So richtig darf sie nicht als Actionheldin glänzen; während Gosling sich draußen auf einem vorüberfahrenden Müllwagen mit den Bösen prügelt, schmachtet sie in der Karaoke-Bar Phil Collins’ „Against All Odds“. Der Mann versetzt sie schon wieder, auch wenn er diesmal bessere Gründe hat.
Der Plot ist verwickelt wie ein komplizierter Stunt und soll hier schon aus Spoilergründen verschwiegen werden. Es mag genügen zu sagen, dass „The Fall Guy“ der Drahtseilakt gelingt, Komödie, Action-Film mit Noir-Anteilen und süße Lovestory zu kombinieren. Regisseur David Leitch, selbst ein Ex-Stuntman, der schon Brad Pitt doubelte, mausert sich gerade zum hottesten Ticket in Hollywood, nachdem er in den letzten Jahren eine hochoktanige Großtat nach der anderen auf die Leinwände losgelassen hat: „John Wick“, „Atomic Blond“, „Deadpool 2“ und „Bullet Train“.
Am Ende des neuen Films stehen sich zwei Frauen gegenüber, eine nette und eine fiese. Die Fiese kommt tatsächlich mit: „Lass uns zusammenhalten! Das wahre Problem ist doch die toxische Männlichkeit!“ Für solch scheinheiliges Gesabbel bekommt sie die verdiente Quittung. Sogleich hat Lee Majors, der alte Colt Seavers, einen kleinen Ehrenauftritt. Und man denkt sich: So schön könnte die Welt sein, alte und neue Männlich- und Weiblichkeit sind versöhnt, und die Grenze verläuft wieder da, wo sie hingehört: zwischen Gut und Böse.