WELTGo!
Ihr KI-Assistent für alle Fragen
Ihr KI-Assistent für alle Fragen und Lebenslagen
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Geschichte
  4. Matrosenaufstand 1918: "Überall herrscht gesteigerte Kampfeslust"

Geschichte Matrosenaufstand 1918

"Überall herrscht gesteigerte Kampfeslust"

Vor 90 Jahren begann in Kiel der Matrosenaufstand, der das Ende des Kaiserreichs einläutete. Briefe des Marinekommandanten belegen, dass er jegliches Gespür für die Stimmung unter den Soldaten verloren hatte. Kaiser Wilhelm floh später in die Niederlande – genau genommen war das Fahnenflucht.

Der große Marinekommandant, der noch gut zwei Jahre zuvor die so kampfstarke britische Grand Fleet vor dem Skagerrak das Fürchten gelehrt hatte, ihm war der Realitätssinn abhanden gekommen. „Überall herrscht gesteigerte Kampfeslust“, schätzte er am 29. Oktober 1918 in einem Brief an seine Familie die Lage ein. Admiral Reinhard Scheer, im Mai 1916 bei jener größten Seeschlacht der Marinegeschichte noch oberster Kommandant der kaiserlichen Hochseeflotte, inzwischen aufgestiegen zum Stabschef der Seekriegsleitung, übte sich gegen Ende des Krieges in Optimismus und Gelassenheit. Täglich schrieb er seiner Frau oder telefonierte ausführlich mit ihr, nahm sich Zeit für lange Spaziergänge mit seinem Hund Battie.

Gerade mal eineinhalb Wochen später war dann die Wirklichkeit über ihn hereingebrochen. Schlagartig hatte er erkennen müssen, wie wenig Kampfeslust gerade bei seinen Matrosen herrschte. Nicht nur der Sieg, von dem er immer noch geträumt hatte, war nun in Gefahr. Ganz offensichtlich hatte er nun auch Angst um sein Leben, befürchtete, von meuternden Matrosen an die Wand gestellt zu werden, wie es die bolschewistischen Revolutionäre mit ihren Offizieren gerade erst vorgemacht hatten. „Wenn ich keine Gelegenheit mehr haben sollte, Dir zu schreiben, so sollst Du doch noch einmal hören, wie teuer Du mir bist“, hieß es im Brief am 10. November 1918.

Für Optimismus war ihm nun längst jeder Anlass genommen, und wo es noch Kampfeslust gab, so richtete sie sich gegen ihn selbst. Spätestens seit dem 4. November, vor 90 Jahren. Arbeiter- und Soldatenräte hatten, zuerst an jenem Tag in Kiel, anschließend binnen weniger Tage überall im Reich – noch Kaiserreich – die Macht übernommen. Am 9. November aber hatte Reichskanzler Max von Baden die Abdankung des Kaisers bekannt gegeben. Nicht zuletzt Reinhard Scheer selbst hatte daran, dass alles zuletzt so schnell ging, gehörigen Anteil. Er war der Betreiber jenes berüchtigten Flottenbefehls vom 24. Oktober, mit dem die Seekriegsleitung ihr gesamtes großes Gerät noch einmal zur Grand Fleet der Briten schicken wollte, auf die Nordsee, zu einer Art zweitem Skagerrak – ein Befehl, der die Matrosen auf die Barrikaden rief.

Ausgearbeitet hatte den Plan Konteradmiral Adolf von Trotha, ihm schwebte eine „letzte Entscheidungsschlacht“ vor, „auch wenn sie ein Todeskampf wird“. Intern machte sich die Flottenführung nichts vor: „Wenn auch nicht zu erwarten ist, das hierdurch der Lauf der Dinge eine entscheidende Wendung erfährt, so ist es doch aus moralischen Gesichtspunkten eine Ehren- und Existenzfrage der Marine, im letzten Kampf ihr Äußerstes getan zu haben.“ Düstere Aussichten für die Matrosen und Heizer, die noch an die Schlacht vorm Skagerrak denken mussten, wo bereits 8500 von ihnen auf beiden Seiten an Deck oder tief unten im Schiffsbauch elend zu Tode gekommen waren. So düster, dass die Website der Deutschen Marine heute in ihren Geschichtsbetrachtungen sich jeglicher Kritik an der damaligen Meuterei enthält. So düster auch, dass eigentlich selbst Admiral Scheer den Lauf der Dinge hätte ahnen können.

Julius Halm, Urururenkel Scheers, hat sich durch die Korrespondenz seines berühmten Vorfahren gegraben und stellt einen zum Ende des Ersten Weltkriegs hin wachsenden Wahrnehmungsverfall fest. Scheer, der in den frühen Jahren, als er noch zu Friedenszeiten um die Welt fuhr, in seinen Briefen solche Neugier bewies, für andere Kulturen durchaus aufgeschlossen war, er „dachte nun, er wüsste alles“, meint Halm, und habe so den Sinn für neue Situationen um ihn herum verloren. Auch der Umschwung in der Marine sei so an ihm vorbeigegangen. Halm geht davon aus, dass Scheer „die Revolution von 1918 hätte verhindern können, hätte er die Zeichen der Zeit erkannt“. Sie waren deutlich genug.

Offiziell war der Befehl Scheers noch streng geheim, als die Hochseeflotte Ende Oktober bei Wilhelmshaven auf der Schillig-Reede vor Anker lag. Doch sprach er sich in der Nacht vom 29. zum 30.?Oktober zügig herum. Und dies, obwohl die Flüsterpropaganda der Heizer und Matrosen das Wasser zwischen den isoliert liegenden Schiffen erst mal überbrücken musste. Bald gab es Befehlsverweigerung beim Ankerlichten, offene Meuterei und sogar Sabotage im III. Geschwader auf den Schlachtschiffen „Thüringen“ und „Helgoland“.

Die Admiralität fuhr großes Geschütz auf, am Morgen des 31. Oktober waren Torpedorohre einiger U-Boote und Torpedoboote auf die beiden Stahlkolosse gerichtet. Sollte die große, die letzte Schlacht nun schon im heimatlichen Jadebusen über die Bühne gehen? Die U-Boote waren Scheer eher ergeben, hatte der Flottenkommandant gegen Ende des Krieges doch noch ein großes U-Boot-Programm ins Leben gerufen, mit dem er die britische Seeherrschaft brechen wollte.

In letzter Sekunde ergaben sich die meuternden Matrosen und Heizer, ließen sich festnehmen. Widerstandslos, aber gewiss nicht leichten Herzens, hatte doch Admiral Scheer persönlich ein Jahr zuvor zwei meuternde Matrosen hinrichten lassen. Auf den ersten Blick war es ein Sieg der Seekriegsleitung. Andererseits sah das Flottenkommando ganz realistisch, dass man sich des Gehorsams nicht mehr sicher sein konnte.

Befehl an das III. Geschwader zur Rückfahrt in den Heimathafen Kiel, Flottenübungen bei der Durchfahrt durch den Nord-Ostsee-Kanal, Eintrag des Geschwaderkommandeurs Kraft: „funktioniert tadellos“. Noch im Kanal aber ließ Kraft auf dem Schlachtschiff 47 Matrosen verhaften, die er als Haupträdelsführer ansah. Dies war das Signal dafür, dass gleich unmittelbar nach der Ankunft im Kieler Marinehafen klar war, dass nichts mehr „tadellos funktioniert“.

Anzeige

Die Matrosen, denen Landurlaub gewährt wurde, trafen sich abends am 1. November im Gewerkschaftshaus – und nun kam die Politik ins Spiel. Die örtlichen Gewerkschaften schalteten sich ein, SPD und USPD – jene Partei, die sich im Streit über die Kriegskredite von den Sozialdemokraten abgespalten hatte – waren zur Stelle. Zwei Forderungen mobilisierten nun, da die Kriegsmüdigkeit in der Heimat derjenigen an der Front nicht mehr nachstand, die Menschen zu mehreren Zehntausenden: kein Auslaufen mehr gegen den Feind und die Freilassung der inhaftierten Matrosen.

Die Polizei sperrte zwar noch das Gewerkschaftshaus ab dem 2. November, am 3. schoss die Garnison in die Massen, tötete sieben Personen und verletzte mehrere Dutzend. Doch am 4. November 1918, jenem Tag, der als Beginn der deutschen „Novemberrevolution“ gilt, hatten die Kräfte der kaiserlichen Ordnung in der Hafenstadt keine Macht mehr, auch wenn sie sich noch der Illusion hingaben, mit den Aufständischen zu verhandeln. Tatsächlich hatten sich die Soldaten der örtlichen Garnison mit ihnen verbrüdert, auf allen Kriegsschiffen im Hafen wehte die rote Fahne.

Auch wenn nun Matrosenräte, Arbeiterräte, Soldatenräte aus dem Chaos erwuchsen – dass die Bolschewisten die Macht übernähmen, wie es wohl Scheer befürchtet hatte, davon war man weit entfernt. Gustav Noske, Reichstagsabgeordneter der SPD, war aus Berlin herbeigeeilt, wurde begeistert empfangen und ließ sich flugs an die Spitze der Räte wählen – eine Erfahrung, die auf Jahrzehnte für die Sozialdemokratie sinnstiftend wirken sollte. Erst in Norddeutschland, bald auch in Württemberg und in Bayern war anschließend die kaiserliche Macht zusammengebrochen, sie war einem Flächenbrand zum Opfer gefallen.

Am 11. November 1918 war der Krieg für Deutschland zu Ende. Rat der Volksbeauftragten, Reichsrätekongress, Weihnachtsunruhen, Spartakusaufstand, das Reich kam lange nicht zur Ruhe – noch ein dreiviertel Jahr bis zum August 1919 sollte es dauern, bis die Weimarer Verfassung in Kraft trat. Den Matrosenaufstand hätte Reinhard Scheer vielleicht verhindern können, wenn er die Zeichen der Zeit erkannt hätte, das Kaiserreich damit aber wohl kaum retten können. Übrigens war sein Flottenbefehl im Grunde auch schon eine Meuterei – gegen das Parlament, das nach der neuen Reichsverfassung vom Oktober 1918 über einen solchen Kriegszug gen England hätte befinden müssen. Auch deswegen war der Befehl geheim.

Dass Kaiser Wilhelm in die Niederlande floh, war genau genommen sogar Fahnenflucht, weil er die Abdankungsurkunde erst Wochen später im Exil unterzeichnete. Doch darauf kam es da nun auch nicht mehr an.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema