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Kultur Soziologe Daniel Bell

Liberaler, Sozialist und Konservativer in einer Person

Soziologe Daniel Bell Soziologe Daniel Bell
Gegen jede Art von Fanatismus: Daniel Bell
Quelle: akg-images / Armin Pongs
Daniel Bell war ein Meister seines Fachs. Früher als andere warnte er vor Populismus, der den Zusammenhalt demokratischer Gesellschaften gefährdet. Der Politikertypus, der Statusangst perfekt mit Ressentiments bedient, taucht in der Geschichte immer wieder neu auf.
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Der Soziologe Daniel Bell (1919-2011) galt schon zu Lebzeiten als Klassiker seines Fachs. Er nannte sich einen Sozialisten in der Ökonomie, einen Liberalen in der Politik und einen Konservativen in der Kultur. Bell sah darin keine Dissonanz, sondern einen Dreiklang, den er in einem Interview mit der WELT (12.1.2005) folgendermaßen beschrieb: „Wenn man auf einem Gebiet ein Radikaler ist, kann man auf einem anderen durchaus konservativ sein. Ich bin in der Politik ein Liberaler, weil ich an individuellen Verdienst glaube, an die Idee einer gerechten Meritokratie. Ich bin Sozialist in der Ökonomie, weil mir Partizipation wichtig ist, jeder muss auf würdige Weise an den vorhandenen Ressourcen teilhaben können. In Kunst und Kultur bin ich konservativ, weil ich an Werten und Traditionen festhalte.“

Gesprächsläden, „Talk shops“, prägten das Leben und das intellektuelle Temperament Daniel Bells – vom „cheder“, der jüdischen Knabenschule, wo er als Kind lernte, die Torah zu interpretieren, über die sozialistischen Debattenzirkel am New Yorker City College, dem „Harvard der Armen“, bis zu den Marathon-Debatten der „New York Intellectuals“ und hitzigen Herausgebersitzungen in Zeitschriften wie der „Partisan Review“. Obwohl er herausgehobene Professuren an der Columbia University und in Harvard innehatte, spielte für Bell die Universität eine verhältnismäßig geringe Rolle. Sie war für ihn kein „talk shop“, kein Ort der Debatte und der Diskussion. Er selbst war ein Intellektueller und dann erst, wenn überhaupt, Professor der Soziologie. Bell, der bis 1958 als Journalist gearbeitet hatte, schrieb nicht für Spezialisten, sondern für ein breites gebildetes Publikum. Zeitlebens politisch engagiert, kommentierte er regelmäßig das Zeitgeschehen.

Ein „Spezialist für Generalisierungen“

Daniel Bell gehörte zu den wirkmächtigsten öffentlichen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Grundlegende Veränderungen der Sozialstruktur erkannte er früh und fasste sie in prägnante Begriffe. Die Titel seiner Bücher wurden zu Kennmarken, die bis heute zur Beschreibung der Moderne verwendet werden, ohne immer ihren Urheber zu nennen: „Das Ende der Ideologie“, „Die nachindustrielle Gesellschaft“, „Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus“. Bell nannte sich selbst einen „Spezialisten für Generalisierungen“. Selbstironisch bilanzierte er, die Titel seiner Bücher seien so suggestiv gewesen, dass sie viele potentielle Leser davon abhielten, ihre Inhalte zur Kenntnis zu nehmen. Jetzt haben amerikanische Wissenschaftler eine von kritischer Sympathie geprägte „Inhaltsprüfung“ vorgenommen: „Defining the Age. Daniel Bell, His Time And Ours“.

Für manche Fehleinschätzungen Daniel Bells, schreiben die Herausgeber, war ein „recency bias“ verantwortlich – das Rezente beschäftigte ihn so sehr, dass er das Kommende verkannte. Die Überwältigung durch die Gegenwart zeigte sich insbesondere im Kulturkonservatismus Daniel Bells. In seinem Buch über „Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus“ lieferte er für seine Ablehnung der „Porno-Pop-Kultur“ eine systematische Begründung. Der ursprüngliche Zusammenhang zwischen einer Wirtschaft, die auf Arbeitsdisziplin beruhte und einer Kultur der Sparsamkeit und Entsagung ging immer stärker verloren. Moral und Wirtschaftshandeln koppelten sich voneinander ab. Aus einer Ökonomie, die fragte, wie sich die notwendigen Bedürfnisse des Menschen erfüllen ließen, wurde eine Ökonomie der unersättlichen Wünsche.

Buchcover von "Defining the Age"
Die neue Studie über Daniel Bell und seine Zeit
Quelle: Columbia university press

Daniel Bell sah eine entscheidende Entwicklung nicht voraus: Die Faktoren, die in seinen Augen den wirtschaftlichen Fortschritt bedrohten, beförderten diesen Fortschritt auf innovative Weise. Bell klagte, dass die moderne Kultur immer hedonistischer, permissiver, expressiver und ich-bezogener würde. Die darin zum Ausdruck kommende Autoritätsskepsis schade einer wirtschaftlichen Entwicklung, die zu ihrem Funktionieren auf das Vertrauen gegenüber Spezialisten und Experten angewiesen sei.

Aber es war genau diese Kultur, die den digitalen Kapitalismus hervorbrachte und zum Treiber des Wirtschaftswachstums wurde. Von dieser Kultur sind Unternehmen wie Microsoft, Apple und Facebook geprägt. Die von Daniel Bell so gehasste Spielebranche ist heute Unsummen wert. Vor kurzem kaufte Microsoft den Videospielanbieter Activision Blizzard für 70 Milliarden Dollar. Auch reklamiert die Branche für sich eine moralische Mission, sie beansprucht, die Welt besser zu machen. 1984 behauptete Apple in einem Super Bowl-Fernsehspot, der Macintosh Computer sei der Grund, warum das Jahr 1984 Orwells „1984“ nicht ähnele.

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Die Autoren von „Defining the Age“ widmen ihr Buch „der nächsten Generation von Intellektuellen, welche das Ethos der öffentlichen Verantwortung ernst nimmt“. Zu den Intellektuellen, die diese Verantwortung in der Vergangenheit beispielhaft ernst nahmen, gehörte Daniel Bell. Trotz mancher Kritik wird deshalb die Bilanz seines Werkes von der Bewunderung für einen Intellektuellen geprägt, der sich zeitlebens jeder Art von Fanatismus entgegenstellte. Für Bell war ein Intellektueller „eine Person, die in der Lage ist, notwendige Unterscheidungen vorzunehmen“.

Keine Unterscheidung war dabei für ihn so wichtig wie Max Webers Gegenüberstellung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Die Gesinnungsethik verlangte die totale Aufgabe in das Erreichen letzter Ziele, ohne die Kosten dafür in Rechnung zu stellen. Der Verantwortungsethiker dagegen wog die Konsequenzen seines Handelns sorgsam ab. Daniel Bell war ein Verantwortungsethiker. Daraus ergaben sich seine Reaktionen auf die intellektuellen und politischen Kontroversen der Nachkriegszeit.

Die Kontroversen der Nachkriegszeit

Für Bell waren die 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts die Dekade der „ruhigen Generation“, die Schlagworte des intellektuellen Diskurses hießen Ironie, Paradox, Ambivalenz und Komplexität. Die 60er-Jahre waren geprägt von der Rückkehr leidenschaftlichen Engagements. Beide Dekaden wurden von heftigen Auseinandersetzungen auf der linken Seite des politischen Spektrums geprägt: in den Fünfzigern ging es um die Kampagne des Senators von Wisconsin Joseph McCarthy gegen den Kommunismus, in den Sechzigern ging es um die Konfrontation von Liberalen und Neuen Linken.

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Bei aller frühen Sympathie für den Sozialismus betrachtete sich Daniel Bell als Sozialdemokraten, der in den Kommunisten und ihren Methoden die Erzfeinde der Demokratie sah. Die Kommunistische Partei verdiente diesen Namen nicht, sie war eine Konspirationsagentur, weil sie im Auftrag einer fremden Macht handelte. Aber auch wenn er die Sowjetunion als Bedrohung des demokratischen Westens sah, hatte Daniel Bell keinerlei Sympathie für die „Kommunistenjagd“ McCarthys, der mit seinen inquisitorischen Anschuldigungen und Verdächtigungen den inneren Zusammenhalt der amerikanischen Demokratie gefährdete.

Wie aber konnte es McCarthy gelingen, so viel Einfluss zu gewinnen und so großen Schaden anzurichten? Viele Beobachter sahen darin eine raffinierte Strategie reaktionärer Eliten. Bell hingegen und die Autoren, die er in seinem einflussreichen Sammelband „The New American Right“ versammelte, nahmen die „Popularität“ McCarthys ernst. Die Ursachen seiner Popularität lagen für sie nicht in der wirtschaftlichen Malaise seiner Anhänger. Ursächlich dafür waren vielmehr die „Statusangst“ und das Ressentiment von Teilen der Bevölkerung, die sich als Verlierer des sozialen Wandels sahen und von den Eliten verachtet fühlten.

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Als „The New American Right“ 1955 erschien, war der McCarthy-Wahn bereits abgeklungen. Daniel Bell aber warnte, die Ursachen, die McCarthy populär gemacht hatten, seien immer noch wirksam. Unter allen Vorausahnungen Daniel Bells gibt es keine, die so aktuell geblieben ist. Der Aufstieg Donald Trumps hat die gleichen Ursachen wie der Aufstieg McCarthys.

Vor fast siebzig Jahren geschrieben klingen Bells Worte wie eine Schilderung des Sturms auf das Washingtoner Kapitol am 6. Januar 2021: „Der Zusammenbruch der Demokratie droht, wenn es politischen Parteien gelingt, ‚private Armeen’ zu rekrutieren, deren Einsatz von Gewalt durch die gewählten Autoritäten nicht mehr kontrolliert werden kann.“ Es bleibt die Hoffnung Daniel Bells, dass die auf Ausgleich und Kompromiss ausgerichteten demokratischen Institutionen in der Lage sind, den politischen Extremismus davon abzuhalten, an die Macht zu kommen.

Paul Starr & Julian E. Zelizer, „Defining the Age. Daniel Bell, His Time And Ours“, New York, Columbia University Press, 332 S., 33,55 €.

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