Wer auf die simple Frage „Was ist Pizza?“ schon immer auf der Suche nach einer umfassenden und bis ins kleinste Detail erschöpfenden Antwort war, hat mit der jüngst erschienenen Publikation „Modernist Pizza“ (Phaidon, 375 Euro) nun seine Bibel gefunden. Beziehungsweise gleich drei. Denn ihr Autor Nathan Myhrvold ist bekannt dafür, seinen Themenfeldern mit einer solchen Akribie und wissenschaftlichem Forscherdrang auf den Grund zu gehen, dass ein einzelner Band nicht ausreicht.
Das Buch reiht sich in eine Serie von Veröffentlichungen ein, die 2011 mit dem damals bahnbrechenden „Modernist Cuisine“ begann. Auf dem Höhepunkt der Molekularküche hatte Myhrvold eine Art Brockhaus der Küche zusammengetragen, der minutiös das Wissen der Welt zum Thema Küchengeschichte, Produkte, Zubereitungen und Garmethoden zusammenfasste. Jetzt hat sich Myhrvold, Doktor der Mathematik und der Physik mit Postdoc bei Stephen Hawking und ehemaliger Chief Technology Officer bei Microsoft, dem emotional aufgeladenen Thema „Pizza“ zugewandt, über das in Nerdkreisen heute regelrechte Glaubenskriege geführt werden.
Auf insgesamt 1700 Seiten behandelt er mit seinem Co-Autor Francisco Migoya die Bereiche „Geschichte und Grundlagen“, „Techniken und Zutaten“ und schließlich im letzten Band „Rezepte“. Das Kompendium umfasst eine kulturgeschichtliche Aufarbeitung der Ursprünge dieses belegten Teigfladens im 16. Jahrhundert, bei der nebenbei die landläufige Mär widerlegt wird, dass schon die alten Römer ihren Teig mit irgendetwas belegt hätten. Myhrvolds Recherchen ergaben, dass die angebliche Geburt der Pizza Margherita in Neapel im Jahr 1889 nur eine Legende ist, er beschreibt den Siegeszug der Pizzen in ihren verschiedenen Subtypen in den USA, Argentinien und Brasilien und zeichnet in seinem Buch die Entwicklung einer der beliebtesten Speisen der Menschheit nach.
In vier Jahren Forschung im Feld und im Labor gingen die Autoren und ihr Team dann Zutaten, Teigführungsarten und Belag auf den Grund – Band 2. Fragen wie „Welches Mehl verhält sich wie?“ oder „Welche Dichte und Feuchte muss die Tomatensalsa der verschiedenen Subtypen haben?“ werden in einer Ausführlichkeit erörtert, die einen bisweilen etwas ratlos zurücklässt. Doch man bekommt auch praktische Tipps: Wer an seinem hausgemachten Pizzateig am Rand diese dicken Blasen haben möchte, wie sie nur geübte Pizzaioli herstellen können, nimmt einfach eine Spritze und pumpt Luft hinein.
Im dritten Band gibt es neben 1000 Rezepten dann noch diverse Anregungen, wie man die Klassiker in modernistische – also nach Ansicht der Autoren bessere – Versionen ihrer selbst verwandeln kann.
Insgesamt ist das Buch etwas Amerika-lastig geraten. Doch fast allein schon für die wissenschaftliche Erklärung, warum in so vielen amerikanischen Pizzerien sehr erfolgreich schlechte Pizzen verkauft werden, lohnt sich der Erwerb dieser 15 Kilo unterhaltsamen Größenwahns. Myhrvold bescheinigt Menschen, die ebenjene Pizzen – beispielsweise im New-Haven-Style – lieben, weil sie diese nur so schon seit der Kindheit kennen, eine Art kulinarisches Stockholm-Syndrom.