Als Flavio Briatore vor Kurzem eine Filiale seiner Restaurant-Kette in Mailand eröffnete, hagelte es Kritik. Beanstandet wurden vor allem die für italienische Verhältnisse sehr hohen Preise im „Crazy Pizza“ – unter anderem steht dort eine Trüffelpizza für 55 Euro auf der Karte. Worauf der Unternehmer aus Norditalien lautstark verkündete, dass man für um die fünf Euro, die in Neapel für eine Margherita verlangt werden, keine ordentliche Pizza backen könne. Das wiederum führte zu entrüsteten Gegenreaktionen aus Süditalien, wo der landesweit bekannte Pizzaiolo Gino Sorbillo aus Protest Gratis-Pizzen verteilte. Briatore legte nach und sagte, dass die Pizza der ganzen Welt gehöre und andernorts viel besser zubereitet werde als in Neapel. Schon war ein Streit ausgebrochen, der in Italien schon lange schwelt – und der sich um die Frage dreht, was eine echte Pizza überhaupt ausmacht.
Dabei braucht man nur „Das Gold von Neapel“ zu sehen, um zu wissen, dass eine Pizza auch eine Art Fladenbrot sein kann. In dem Film aus dem Jahr 1954 verkörpert Sophia Loren eine treulose Pizzabäckerin, die eine Garküche in Neapel betreibt. Überraschenderweise kommt die Pizza, die die Diva stimmgewaltig als solche anpreist, weder aus dem Ofen, noch ist sie belegt. Sie besteht vielmehr aus einem Stück nacktem Teig, das in Öl gebacken wird.
Was die Loren aus dem Fett fischt, ist eine sogenannte Pizza fritta, eine Urform des Fladens, die in der süditalienischen Metropole einst weitverbreitet war. Historisch belegt die Szene, dass die Pizza selbst in ihrer Heimatstadt in verschiedensten Gestalten auftreten kann. Und dass weder ihre Erscheinungsform noch ihre Zubereitungsart so stark vereinheitlicht sind, wie viele Neapolitaner behaupten.
Diese verstehen sich nämlich gern als Hüter der einzig wahren Pizza. Und gehen davon aus, dass eine solche ganz bestimmte Kriterien zu erfüllen hat, die in ihrer Stadt festgelegt wurden und überall anders eingehalten gehören. Dabei ist der historische Ursprung des Gerichts alles andere als gesichert, finden sich doch ähnliche Fladen im ganzen Mittelmeerraum. Zum anderen tauchen immer wieder alternative Modelle auf, die sich großer Beliebtheit erfreuen, vor allem die römische Version, also die Pizza alla romana. Von ihrer Verwandten im heute nur mehr eine Zugstunde entfernten Neapel unterscheidet sie sich in erster Linie durch den Teig. Während dieser in Neapel weich und biegsam daherkommt, präsentiert er sich in der Hauptstadt dünn und knusprig. Biegbar muss die neapolitanische Pizza sein, weil man sie seit jeher gern auf der Straße isst. Dabei wird sie zusammengefaltet und wie eine Crêpe in einer Hand gehalten. Eine Technik, die man „a libretto“ (Büchlein) oder „a portafoglio“ (Brieftasche) nennt. Abgebissen wird üblicherweise beginnend an der Spitze.
Auch in Rom ist die Pizza ein beliebtes Streetfood, allerdings in ihrer lokalen Version als Pizza al taglio, für die sie auf einem Backblech gebacken und in handgerechte Rechtecke geschnitten wird. Eine Variante, die neapolitanische Pizzaioli schon allein wegen der Sache mit dem Blech nicht als Pizza akzeptieren.
Um ihre genauen Vorstellungen davon, wie eine Pizza aussehen muss, in Stein zu meißeln, hat eine Vereinigung von Puristen, die Associazione Verace Pizza Napoletana, 2010 offiziell festgelegt, dass das Gebäck einen erhöhten Rand aufweisen muss, ein bis zwei Zentimeter breit, luftig und aufgebläht. Um den „cornicione“ (Gesims) genannten Rand wird in Neapel ein echter Kult betrieben. Man diskutiert über seinen Umfang, den idealen Bräunungsgrad und die Elastizität des Ganzen.
In Rom indessen ist jede Art von Rand unerwünscht. Dort gilt wie auch bei Briatore: Je weniger Rand, desto besser. Allerdings geht man nicht so weit, den Ursprung des Gerichts für sich beanspruchen zu wollen. Das überlässt man den Neapolitanern, welche die Abwesenheit eines Randes als Defekt und kläglich misslungenen Versuch eines unfähigen Pizzaiolos betrachten. Zumal sie das Fehlen auf die Verwendung eines vulgären Nudelholzes zurückführen, das den südländischen Teigjongleuren als Instrument des Teufels gilt. Und so mussten sich die Römer lange Zeit rechtfertigen für ihre so traurig randlose, angeblich ausgewalzte und sowieso vergeigte Pizza. Doch inzwischen sind die Hauptstädter in die Offensive gegangen. 2018 wurde ein „Tag der römischen Pizza“ ins Leben gerufen. Ja, sogar ein Manifest hat man aufgesetzt, in dem die Kriterien für den Kapitalen-Fladen festgelegt sind. Nun ist ein Manifest freilich noch kein offizielles Regelwerk, wie es die Neapolitaner vorweisen können, aber immerhin.
Dann plötzlich, nach einer Woche des öffentlichen Schlagabtausches, der als Pizza-Gate das Land in Atem hielt, trafen sich Briatore und Sorbillo in einer viel gesehenen TV-Show. Anstatt sich mit Teigfetzen zu bewerfen, wie das viele erwartet hatten, schloss man Frieden, Sorbillo wurde besänftigt, Briatore nach Neapel eingeladen. Die Pizza, hieß es einstimmig, sei eine große Familienangelegenheit. In Wahrheit wollten alle doch nur eines, nämlich gute Pizza backen. Und vielleicht auch die eigenen Lokale bewerben, wie es den beiden eindrucksvoll geglückt ist in diesem italienischen Frühsommer.