Vermummte Gestalten schleppten sich über Straßen voller Trümmer, vorbei an Fassaden ausgebrannter Häuser, die teilweise noch qualmen. Charkiw im März 2022? Nein, Charkiw im Frühjahr 1943. Die Bilder aus der dritten, heftigsten Schlacht um die nordostukrainische Großstadt während des Zweiten Weltkrieges sind zwar schwarz-weiß, ähneln ansonsten aber in frappierender, beängstigender Weise jenen aus der dem aktuellen russischen Angriffskrieg fast genau 79 Jahre später.
Viermal wechselte 1941 bis 1943 die militärische Besatzung der neben Minsk und Kiew wichtigsten Stadt im westlichen Teil der Sowjetunion; ein weiterer gescheiterter Eroberungsversuch führte zu einer enorm verlustreichen Kesselschacht. Charkiw, in russischer Sprache Charkow, gehört damit zu den Großstädten, die im Zweiten Weltkrieg am heftigsten umkämpft waren. (Das praktisch völlig vernichtete Stalingrad läuft gewissermaßen außer Konkurrenz.)
Die erste Schlacht um Charkiw hatte Ende Oktober 1941 stattgefunden. Die deutsche 6. Armee als Teil der Heeresgruppe Süd hatte am 6. Oktober die Offensive wieder aufgenommen und war binnen 15 Tagen bis an den Stadtrand vorgestoßen. Dann begann der eigentliche Sturm, vorgetragen von der 57. Infanteriedivision; ihr gegenüber stand die 216. Division der Roten Armee.
„Um große Verluste in den Straßenkämpfen zu vermeiden“ wies Divisionskommandeur Generalleutnant Anton Dostler an, sollte „abschnittsweise vorgegangen werden, stets unter dem Schutz der schweren Waffen und Sturmgeschütze“. Ein am Sturm beteiligter deutscher Soldat erinnerte sich: „Das Stadtinnere war in eine Festung verwandelt worden. In jeder Straße, an jeder Straßenecke, an jedem Platz sollten Barrikaden unser Vorgehen aufhalten; (...) Panzergräben und Minenfelder sollten das Vordringen der Panzer unterbinden.“
Es nutzte den Verteidigern nichts: Bis zum 25. Oktober 1941 war die Innenstadt in der Hand der Wehrmacht. Dostlers Vorgesetzter, der General der Infanterie Erwin Vierow, erließ den „Korpstagesbefehl Nr. 17“, in dem es hieß: „Soldaten! Charkow, die drittgrößte Industriestadt Russlands, ist genommen. Ein stolzer Erfolg, den Ihr durch Eure Tapferkeit errungen habt.“ Über die Verluste bei den zivilen Einwohnern der Stadt gibt es nicht einmal Schätzungen.
Da Charkiw als Eisenbahnknotenpunkt und wichtiger Rüstungsstandort von großer strategischer Bedeutung war, versuchte die Rote Armee im Mai 1942, die Stadt in einer Zangenbewegung einzunehmen. Doch der Versuch endete in einer Katastrophe: Sowjetmarschall Semjon K. Timoschenko griff mit 765.000 Mann, fast 1500 Panzern und Sturmgeschützen sowie 925 Flugzeugen an, und nach wenigen Tagen standen seine Truppen nur noch 20 Kilometer von Charkiw entfernt.
Doch ein riskantes Manöver auf Hitlers direkten Befehl verwandelte die sowjetische Offensive in einen deutschen Sieg: Innerhalb weniger Tage kesselten die 17. Armee von Süden her und die 6. Armee von Norden die sowjetischen Truppen ein. Stalin verbot Timoschenko den rechtzeitigen Rückzug seiner Verbände.
Insgesamt verlor die Rote Armee bei dieser zweiten Schlacht um Charkiw 22 Schützen- und sieben Kavalleriedivisionen sowie 15 Panzerbrigaden. 171.000 Mann fielen oder gingen in Kriegsgefangenschaft; weitere 106.000 Mann wurden so schwer verwundet, dass sie mindestens zeitweise kampfunfähig waren. Die zivilen Verluste hielten sich in Grenzen, weil die Stadt selbst kaum betroffen war.
Nach der deutschen Niederlage in Stalingrad wollte die Rote Armee die Dynamik des Sieges nutzen und Charkiw zurückerobern. Bei Beginn der Offensive am 2. Februar 1943 waren die Kräfte der Roten Armee dreifach überlegen – 210.000 gegenüber 70.000 Mann. In der Stadt stand das SS-Panzerkorps unter dem Waffen-SS-General Paul Hausser – und er ignorierte den Befehl von Hitler, Heeresgruppen-Kommandeur Erich von Manstein und seines direkten Vorgesetzten General Hubert Lanz, Charkiw um jeden Preis zu halten. Vielmehr zog Hausser seine Truppen zurück, als ihre Einkesselung drohte.
Hitler war wütend, setzte aber erstaunlicherweise nicht den SS-General ab, sondern Lanz, weil der sich gegenüber dem ihm unterstellten General nicht durchgesetzt hatte. Vielleicht war Hausser als populärer Panzergeneral zu wichtig? Jedenfalls brauchten Manstein und Hitler ihn, um die Truppen des SS-Panzerkorps für den Gegenangriff zu motivieren.
Zuerst bestand der Diktator bei einem Besuch in Mansteins Hauptquartier rund 300 Kilometer südwestlich von Charkiw auf einem sofortigen Gegenangriff; doch der Feldmarschall konnte ihn überzeugen abzuwarten. Nun setzte der wohl beste deutsche Stratege seinen Plan um: Er tat weiter so, als würde er sich nach Westen zurückziehen, konzentrierte dabei aber seine Truppen für einen „Schlag aus der Nachhand“. Die deutschen Einheiten setzen sich immer weiter vom Gegner ab, der mit ungeschützten Flanken folgte.
Manstein kam sogar das Wetter zu Hilfe. Auf eine kurze Matschperiode folgte noch einmal starker Frost, sodass die deutschen Panzer nicht mehr auf die wenigen befestigten Straßen angewiesen waren. Am 6. März 1943 stießen von Süden her deutsche Einheiten auf Charkiw vor und kreisten die Stadt bis zum 11. März ein.
Nun zog das sowjetische Oberkommando seine motorisierten Einheiten ab, während Infanterie blieb und die Stadt verteidigen sollte. Die Truppen wurden eingekesselt und aufgerieben. Die Rote Armee verlor bei der dritten Schlacht um Charkiw bis zum 15. März offiziell 45.219 Mann an Toten und Vermissten, meist Gefangenen. Schon fünf Tage zuvor war Hitler persönlich erneut in Mansteins Hauptquartier gekommen, um dessen Strategie nachträglich zu billigen. Derlei war ausgesprochen selten für den Diktator, der sich selbst für seinen besten Strategen hielt.
Charkiw war als Folge der heftigen Kämpfe seit Anfang Februar 1943 fast so zerschossen und zerbombt wie Stalingrad – fast drei Viertel aller Häuser waren zerstört oder standen nur noch als Ruinen, Zehntausende Einwohner tot. Die Mauerreste boten eine gute Grundlage für den Bau von Befestigungen; die Stadt sollte als ein „fester Platz“ verteidigt werden und so zum Pfeiler der Ostfront werden. Das zumindest stellte sich Hitler vor. Tatsächlich hätte die Verteidigung von Charkiw nur zu einem weiteren Stalingrad geführt.
Als der kommandierende General vor Ort Werner Kempf deshalb die Räumung empfahl, wurde er am 14. August 1943 durch General Otto Wöhler ersetzt. Doch der fordert nur fünf Tage später ebenfalls den Abzug seiner Truppen. Zuletzt waren nur 4000 Infanteristen voll kampffähig und alle Panzer verloren.
Zu der Entscheidung beigetragen hatte die große Dynamik der Angriffe der Roten Armee, die jedoch einen anderen Hintergrund hatte: Der sowjetische Armeerundfunk hatte vorzeitig die Eroberung von Charkiw verkündet. Daraufhin ordnete Stalin an, die Stadt so schnell wie möglich zu besetzen, damit er nicht gezwungen sei, die bereits bei den westlichen Alliierten bekannt gewordene Behauptung zurücknehmen zu müssen.
Am 22. August 1943 begannen die Reste der deutschen Verbände ihren Rückzug aus Charkiw, und am folgenden Vormittag gegen 11 Uhr wehte die Rote Fahne über dem Dserschinski-Platz, benannt nach dem Gründer und ersten Chef der bolschewistischen Geheimpolizei. Die vierte Schlacht um Charkiw war zu Ende.
Fast acht Jahrzehnte später schlagen russische Raketen hier ein – der Beginn der fünften Schlacht um Charkiw.
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