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Zweiter Weltkrieg Massaker von Babyn Jar 1941

„Die Leichen wurden regelrecht geschichtet“

Kaum hatte die Wehrmacht 1941 Kiew besetzt, begann ein SS-Sonderkommando den Völkermord. Zehntausende Juden wurden in die Schlucht von Babyn Jar getrieben und mit Genickschüssen ermordet. Die Täter hatten Mitleid – mit sich selbst.
Freier Autor Geschichte
Stationen des Holocaust

Es begann mit Boykottmaßnahmen und endete im industriell betriebenen Völkermord: Die Judenverfolgung der Nazis eskalierte in einer Gewaltspirale, der sechs Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Quelle: WELT

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Die Kesselschlacht von Kiew im August und September 1941 gilt – gemessen an den Zahlen – als größter Sieg der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Was das für die Verlierer bedeutete, machen ebenfalls die Zahlen deutlich. Von den rund 665.000 gefangenen Soldaten der Roten Armee starben Hunderttausende in den Lagern. Und am 29. September ereignete sich bei Kiew das größte Einzelmassaker des Holocaust.

Neun Tage zuvor hatten Truppen der Wehrmacht die ukrainische Hauptstadt eingenommen. Ihnen folgte das „Sonderkommando 4a“ der Einsatzgruppe C unter der Führung des SS-Standartenführers (vergleichbar mit einem Oberst der Wehrmacht) Martin Sandberger. Während das Gros der Wehrmachtsverbände zur Offensive gegen Moskau abgezogen wurde, machte sich das „Sonderkommando“ ans Werk. Was folgte, hat der Historiker Wolfgang Benz in seinem Buch „Holocaust“ zusammengetragen:

„Angeblich 150.000 Juden vorhanden“, hieß es in Nr. 97 der „Ereignismeldungen UdSSR“ der SS. „Überprüfung dieser Angaben leider nicht möglich ... Maßnahmen eingeleitet zur Erfassung des gesamten Judentums, Exekution von mindestens 50.000 Juden vorgesehen. Wehrmacht begrüßt Maßnahmen und erbittet radikales Vorgehen.“

Was das bedeutete, stellten am 28. September zahlreiche Plakate klar. Darauf wurden die Juden der Stadt in russischer, ukrainischer und deutscher Sprache aufgefordert, sich am folgenden Tag zum Zweck der Umsiedlung einzufinden. Papiere, Wertsachen, Geld und warme Kleidung seien mitzubringen. Wer dem nicht Folge leiste, werde erschossen. Als Treffpunkt wurde eine Straßenkreuzung in der Nähe des Güterbahnhofs genannt. Als Vorwand dienten angebliche Bombenanschläge in der Innenstadt von Kiew.

Babi Yar is a ravine in the Ukrainian capital Kiev and the site of a series of massacres carried out by German forces and local Nazi collaborators during their campaign against the Soviet Union. The most notorious and the best documented of these massacres took place on 29–30 September 1941, wherein 33,771 Jews were killed in a single operation. The decision to kill all the Jews in Kiev was made by the military governor, Major-General Kurt Eberhard, the Police Commander for Army Group South, SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln, and the Einsatzgruppe C Commander Otto Rasch. It was carried out by Sonderkommando 4a soldiers, along with the aid of the SD and SS Police Battalions backed by the local police. The massacre was the largest single mass killing for which the Nazi regime and its collaborators were responsible during its campaign against the Soviet Union and is considered to be the largest single massacre in the history of the Holocaust to that particular date, surpassed only by the Aktion Erntefest of November 1943 in occupied Poland with 42,000–43,000 victims, and the 1941 Odessa massacre of more than 50,000 Jews in October 1941, committed by Romanian troops. Victims of other massacres at the site included thousands of Ukrainian nationalists and civilians, Soviet prisoners of war, communists and Roma. It is estimated that between 100,000 and 150,000 lives were taken at Babi Yar during the German occupation.
Wie auf diesem Foto einer anderen Erschießung in der Ukraine im Spätsommer 1941 muss man sich den Massenmord in Babyn Jar vorstellen
Quelle: picture alliance / CPA Media Co.

Wie es in einem Bericht heißt, rechnete die SS zunächst „nur mit einer Beteiligung von etwa 5000 bis 6000 Juden“. Möglicherweise vertrauten viele Opfer darauf, dass ihnen an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, nichts geschehen werde. Auf jeden Fall folgten mehr als 33.000 Menschen dem Aufruf, vor allem Frauen, Kinder und ältere Männer. In einem langen Zug marschierten sie zum jüdischen Friedhof im Nordwesten der Stadt. Dort wurden sie von einem SS-Kommando, Angehörigen zweier Reserve-Polizeibataillone und gedungenen wie freiwilligen ukrainischen Helfern erwartet.

Wolfgang Benz zitiert einen deutschen Kraftfahrer, der die folgende Aktion detailliert beschrieben hat:

„Die angekommenen Juden ... wurden an verschiedenen Plätzen vorbeigeleitet, wo sie nacheinander zunächst ihr Gepäck, die Mäntel, Schuhe und Oberbekleidung und auch die Unterbekleidung ablegen mussten. Genauso mussten sie an einer bestimmten Stelle ihre Wertsachen ablegen ... Das ging alles sehr schnell vor sich, und wo der einzelne zögerte, wurde von den Ukrainern mit Fußtritten und Stößen nachgeholfen ... Es wurde kein Unterschied zwischen Männern, Frauen und Kindern gemacht ... Die entkleideten Juden wurden in eine Schlucht geleitet, die die Ausmaße von etwa 150 Meter Länge, 30 Meter Breite hatte und gut 15 Meter tief war.“

Was folgte, war ein Massenmord mit urtümlichen Mitteln: „Wenn sie am Rande der Schlucht angekamen, wurden sie von Beamten der Schutzpolizei ergriffen und auf bereits erschossene Juden gelegt. Dies ging alles sehr schnell. Die Leichen wurden regelrecht geschichtet. So wie ein Jude dalag, kam ein Schütze von der Schutzpolizei mit der Maschinenpistole und erschoss den daliegenden durch Genickschuss. Die Juden, die in die Schlucht kamen, waren von dem Anblick so erschrocken, dass sie vollkommen willenlos waren.“

Einer der Täter vom Sonderkommando 4a erklärte vor Gericht die Organisation der Mörder: „In der Mulde befanden sich drei Gruppen mit Schützen, mit insgesamt etwa zwölf Schützen.“ Noch ein Vierteljahrhundert später scheute sich der Mann nicht, über Selbstmitleid zu sprechen: „Man kann sich gar nicht vorstellen, welche Nervenkraft es kostet, da unten diese schmutzige Tätigkeit auszuführen. Es war grauenhaft ... Die ganze Erschießung an diesem Tage mag etwa bis ... 17.00 oder 18.00 Uhr gedauert haben ... An diesem Abend hat es wieder Alkohol (Schnaps) gegeben.“

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Am 2. Oktober meldete die Ereignismeldung UdSSR Nr. 101 der SS nach Berlin: „Das Sonderkommando 4a hat in Zusammenarbeit mit Gruppenstab und zwei Kommandos des Polizei-Regiments Süd am 29. und 30.9.41 in Kiew 33.771 Juden exekutiert.“ Derweil waren die Mörder nach Aussage eines Mittäters damit beschäftigt, „Geldscheine zu glätten, die aus dem Eigentum der erschossenen Juden stammten. Ich schätze, es muss sich um Millionenbeträge gehandelt haben.“

Ein inzwischen zugewachsener Teil des Parks, aufgenommen am 17.09.2016 in Babi Jar (Weiberschlucht) in Kiew (Ukraine). Während der deutschen Besatzung von September 1941 bis November 1943 wurden in der «Weiberschlucht» bis zu 200 000 Menschen erschossen. Foto: Andreas Stein/dpa
Die Schlucht von Babyn Jar 2016
Quelle: picture alliance / dpa

Die Kiewerin Irina Chorosunowa schrieb am 29. September in ihr Tagebuch: „Wir wissen immer noch nicht, was sie mit den Juden machen ... Sie sagen, dass die Juden erschossen würden. Ich weiß nur eines: Dort trägt sich etwas Schreckliches zu.“ Die SS berichtete dagegen: „Die gegen Juden durchgeführte ,Umsiedlungsmaßnahme’ hat durchaus die Zustimmung der Bevölkerung gefunden. Dass die Juden tatsächlich liquidiert wurden, ist bisher kaum bekannt, würde auch nach den bisherigen Erfahrungen kaum auf Ablehnung stoßen.“ Die Kiewer Stadtverwaltung rief dazu auf, dass sämtliche „herrenlosen Gegenstände, die von Juden und anderen Personen zurückgelassen worden sind, die die Stadt Kiew verlassen haben“, angemeldet, gesammelt und „verwertet“ werden sollten.

Es hat lange gedauert, bis Historiker die Dimension von Babyn Jar und ähnlicher Massaker erkannten. Rund ein Drittel der sechs Millionen Juden, die dem nationalsozialistischen Völkermord zum Opfer fielen, verloren durch diese archaische Form des Tötens ihr Leben. Sie wurden erschossen, erschlagen oder verbrannt. Für eine Ausstellung über Babyn Jar hat die Berliner Stiftung Topographie des Terrors der Ort der Information des Holocaust-Mahnmals eine Karte erarbeitet, auf der ein Punkt für ein derartiges Massaker mit 500 Toten steht. Sie zeigt eine durch und durch gesprenkelte Landschaft zwischen Ostsee und Schwarzem Meer: die andere Seite der Mordfabriken von Auschwitz oder Treblinka.

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Allein in Babyn Jar wurden bis August 1943 rund 100.000 Menschen ermordet. Dann mussten KZ-Häftlinge die verschütteten Leichen bergen und verbrennen. Die sowjetischen Behörden hatten nach dem Krieg kein Interesse daran, die Erinnerung an den Massenmord wachzuhalten. Das änderte sich erst Mitte der 1970er-Jahre, als ein monumentales „Mahnmal für sowjetische Bürger und für die von den deutschen Faschisten erschossenen Kriegsgefangenen, Soldaten und Offiziere der Sowjetischen Armee“ errichtet wurde. Verschwiegen wurde allerdings, dass Juden die Hauptgruppe der Opfer waren. Erst seit 1991 erinnert eine bronzene Menora an die jüdischen Opfer des Massakers.

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