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Geschichte Babyn Jar-Massaker

Tausendfacher Mord als Alltag - und Belustigung

Ende September 1941 ermordeten SS-Einheiten in Babyn Jar bei Kiew 33.771 Juden. In Massenerschießungen wie dieser starb mindestens ein Drittel aller Holocaust-Opfer, wie eine Ausstellung zeigt.
Leitender Redakteur Geschichte

Der kondensierte Schrecken ist nur zwei Dutzend Wörter lang: „Das Sonderkommando 4a hat in Zusammenarbeit mit Gruppenstab und zwei Kommandos des Polizeiregiments Süd am 29. und 30. September 1941 in Kiew 33.771 Juden exekutiert. So steht es in der „Ereignismeldung Nr. 101“, verfasst in Berlin zwei Tage später.

Mehr Worte waren nicht notwendig, um die höheren Etagen des SS-Apparates vom größten Einzelmassaker zu informieren, das deutsche Einheiten während des Holocausts begingen. Es geschah in Babyn Jar, einem kleinen Tal am Rande der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Heute liegt dort ein kleiner Gedenkpark.

Zum 75. Jahrestag dieses Massakers reist Bundespräsident Joachim Gauck am Donnerstag an den Tatort. Damit setzt er eine Reihe von Staatsbesuchen fort, die ihn schon unter anderem nach Oradour-sur-Glane in Frankreich, Sant’Anna in Italien und Lingiades in Griechenland geführt hat.

Nachweisliche Orte von Massakern durch SS-Einsatzgruppen mit mind. 500 Opfern
Nachweisliche Orte von Massakern durch SS-Einsatzgruppen mit mindestens 500 Opfern
Quelle: Stiftung Denkmal

Zwar nimmt im deutschen Geschichtsbewusstsein der Judenmord insgesamt heute eine angemessene Stellung ein. Dennoch ist kaum bekannt, dass immerhin ein Drittel der sechs Millionen Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns eben nicht quasi industriell in „Todesfabriken“ wie Auschwitz oder Treblinka umgebracht wurden. Sondern durch einzelne Schüsse einzelner deutscher Täter – gewissermaßen Auge in Auge.

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Diese Wissenslücke störte Andreas Nachama, Direktor der Stiftung Topographie des Terrors, und Uwe Neumärker vom Holocaustmahnmal neben dem Brandenburger Tor. Mit ihren Teams und finanziert durch das Auswärtige Amt haben die beiden Historiker eine Wanderausstellung konzipiert, die an die Massenerschießungen zwischen 1941 und 1944 erinnert – im gesamten Areal zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer liegt eine Mordstätte nicht weit von der nächsten.

Selbst wenn man auf einer Karte nur die Tatorte von Massenmorden mit mindestens 500 nachgewiesenen Opfern einzeichnet, sehen die Gebiete zwischen Litauen und der Krim gesprenkelt aus. Und nur eines davon ist Babyn Jar. Für die Ausstellung, die nach der Station in Berlin zunächst nach Köln und dann nach Ludwigsburg wandern wird, hat Projektleiter Ulrich Baumann viel Material zusammengetragen: rund 500 Fotos, 60 laufende Meter Ausstellungstafel, Videointerviews und Hörstationen.

Ein inzwischen zugewachsener Teil des Parks, aufgenommen am 17.09.2016 in Babi Jar (Weiberschlucht) in Kiew (Ukraine). Während der deutschen Besatzung von September 1941 bis November 1943 wurden in der «Weiberschlucht» bis zu 200 000 Menschen erschossen. Foto: Andreas Stein/dpa | Verwendung weltweit
In der Schlucht Babyn Jar ermordeten SS-Männer und Polizisten 1941 bis 1944 bis zu 200.000 Menschen
Quelle: picture alliance / dpa

Spektakuläre Neufunde standen dabei nicht im Mittelpunkt – unter Fachleuten sind fast alle Fotos von Massenerschießungen der Einsatzgruppen bekannt. Weil es zudem von diesem konkreten Taten viel weniger überlebende Augenzeugen gab als in den KZs, stammen die allermeisten Informationen von Täterseite. Das macht die angemessene Darstellung natürlich besonders komplex.

Im Mittelpunkt der Ausstellung steht die Kleinstadt Misotsch in der Region Wolhynien – bis zum Hitler-Stalin-Pakt 1939 im östlichen Polen gelegen, dann sowjetisch besetzt, am 27. Juni 1941 von der Wehrmacht erobert und heute im Westen der Ukraine gelegen. 40 Prozent der Bevölkerung waren Juden, und zu ersten Pogromen durch ukrainische Nationalisten kam es schon zwei Tage nach der Ankunft der Wehrmacht. Noch aber unterband der Ortskommandant alle Ausschreitungen.

Anders Anfang August 1941 in Ostroh und Anfang November in Riwne: Einmal erschossen SS-Einheiten in den jeweils etwa 30 Kilometer von Misotsch entfernten Kleinstädten 2100, das andere Mal sogar fast 20.000 Juden. Die Massenerschießungen begannen, eine eigene Dynamik zu entwickeln.

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In Misotsch selbst war ein Getto eingerichtet worden; dort lebende Juden mussten Zwangsarbeit für deutsche Firmen leisten. Das schützte sie vor der sofortigen Ermordung.

Doch im Oktober 1942 wurde das Getto „aufgelöst“; die verbliebenen etwa 1500 Männer, Frauen und Kinder wurden gruppenweise in eine kleine Senke im Südwesten der Kleinstadt getrieben und dort erschossen. Anwesend war dabei der deutsche Ortsgendarm Gustav Hille; er hatte seine Kamera dabei und machte fünf Fotos: Eine Gruppe Frauen wurde in die Senke getrieben und musste sich dort entkleiden. Dann standen sie in einer Reihe und erwarten ihre Erschießung. Das vierte Bild zeigt die nackten toten Frauen, auf dem fünften gehen zwei der Täter zwischen den Leichen und kontrollieren, ob es Überlebende gibt.

Misotsch war, anders als das Riesenmassaker von Babyn Jar, ein „normales“, im deutsch besetzten Ostmitteleuropa fast alltägliches Verbrechen. Allein in Wolhynien wurden bis Ende 1942 an rund 200 verschiedenen Tatorten bis zu 160.000 Menschen in Massenerschießungen ermordet.

Besonders an den Ereignissen in Misotsch ist, dass es die Fotoserie von Hille gibt. Ob er tatsächlich ein Massenverbrechen dokumentieren wollte, wie er 1946 aussagte, oder ob er aus Sensationslust knipste, ist unklar. Bei einem anderen, viel bekannteren Bild kann man es dagegen mit einiger Wahrscheinlichkeit feststellen.

Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1942 und zeigt einen deutschen Ordnungspolizisten, das Fußvolk des Massenmordes, wie er seinen Karabiner von hinten auf eine Mutter anlegt, die ihr Kind im Arm hält. Wenige Meter weiter graben einige Männer auf dem Feld eine Grube. Kurz darauf dürfte keiner der Zivilisten mehr gelebt haben.

German Einsatzgruppen executing Jews of Kiev near Ivangorod, Ukraine. Photo was intercepted by a postal worker who was a member of the Polish resistance during World War 2. Einsatzgruppen were of the Nazi SS and Gestapo. 1942. (BSLOC_2014_10_170) | Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
Dieses Foto schickte ein deutscher Soldat 1942 nach Hause. Es zeigt eine Exekution in der Ukraine 1942
Quelle: picture alliance / Everett Colle

Ein deutscher Soldat schickte dieses Bild mit der Aufschrift „Ukraine 1942, Judenaktion, Iwangorod“ in die Heimat. Doch es wurde von polnischen Widerstandskämpfern in einem Warschauer Postamt aus der Feldpost geholt. Das Motiv, die Aufschrift und die Tatsache, dass es nach Deutschland geschickt worden war, wenn es auch nie dort ankam, lassen nur einen Schluss zu: Es sollte der Belustigung von Verwandten oder Bekannten in der Heimat dienen.

So gründlich wie dieses Bild haben die Ausstellungsmacher um Ulrich Baumann auch alle anderen Aufnahmen untersucht und überprüft. Seit der Pleite mit der ersten Wehrmachtsausstellung, in der es tatsächlich einige Dutzend falsch beschriftete Aufnahmen gegeben hatte, ist das bei seriösen zeithistorischen Ausstellung Standard. Die Sonderausstellung in der Topographie des Terrors erfüllt die Kriterien sauberer wissenschaftlicher Arbeit: An der Bedeutung der Massenerschießungen für das Gesamtverbrechen Holocaust gibt es keine Zweifel.

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Massenerschießungen. Der Holocaust zwischen Ostsee und Schwarzem Meer 1941-1944“, Topographie des Terrors, Berlin. Bis 19. März 2017, Katalog 16 Euro.

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