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Zweiter Weltkrieg Winterkrieg 1939/40

„Die Finnen mähten Rotarmisten fast im Schlaf nieder“

Mit Übermacht griff die Rote Armee Ende 1939 Finnland an. Aber die Invasion wurde zu einem Desaster. Stalins Säuberungen im Offizierskorps und die Inkompetenz der Politoffiziere rächten sich.
Freier Autor Geschichte
UNSPECIFIED - MARCH 01: Finnish Machine Gunners Unit In Soviet Finnish War On March 1940 (Photo by Keystone-France/Gamma-Keystone via Getty Images) Getty ImagesGetty Images UNSPECIFIED - MARCH 01: Finnish Machine Gunners Unit In Soviet Finnish War On March 1940 (Photo by Keystone-France/Gamma-Keystone via Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Finnische Truppen in Karelien
Quelle: Gamma-Keystone via Getty Images

Zu seinem 61. Geburtstag am 18. Dezember wollte Stalins oberster Politkommissar Lew Mechlis dem Kreml-Herrn ein besonderes Geschenk machen. Die finnische Armee, die sich seit dem sowjetischen Angriff Ende November so hartnäckig jeglicher Kapitulation verweigert hatte, sollte endlich geschlagen werden. Bei 35 Grad Minus kam Mechlis in Suomussalmi an, wo er nur noch trostlose Reste der sowjetischen 44. Division vorfand. „Das Verfahren (gegen die Kommandeure) fand unter freiem Himmel in Anwesenheit der Division statt“, schrieb er nach Moskau. „Das Urteil der Erschießung wurde öffentlich vollstreckt. Die Bloßstellung von Verrätern und Feiglingen geht weiter.“

Mit derartigen Mitteln war der Armeegeneral und Chef der Politischen Hauptverwaltung (Purkka) der Roten Armee schnell bei der Hand. Dennoch blieb sein großspuriges „Geburtstagsgeschenk“ für Stalin Absichtserklärung. Als die Finnen im März 1940 schließlich um Frieden baten, hatte die Rote Armee mindestens 125.000 Gefallene verloren. Das große Ziel, das Land, das Ende 1917 vom Zarenreich unabhängig geworden war, wieder in sein Imperium zurückzuzwingen, musste Stalin aufgeben. Eine 35.000 Quadratkilometer große Schutzzone um Leningrad und Hohn über die Leistungen seiner Armeen war alles, was ihm der Winterkrieg eingebracht hatte. „Die Rote Armee taugte nichts“, gab er später selbst zu Protokoll.

Lew Mechlis (1889-1953), Chef der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee
Lew Mechlis (1889-1953), Chef der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee
Quelle: Wikipedia/Public Domain

Daran war Stalin keineswegs unschuldig. Seiner Großen Säuberung von Partei, Staat und Armee waren 1936 bis 1938 drei von fünf Marschällen, 13 von 15 Armeekommandeuren, 57 von 85 Korpskommandeuren und 110 von 195 Divisionskommandeuren zum Opfer gefallen oder, auf den Punkt gebracht, neun von zehn Generälen und acht von zehn Obersten. Sein ehemaliger Büroleiter Mechlis hatte ihn dabei nach Kräften unterstützt und höchstpersönlich Hunderte Offiziere dem Henker überstellt.

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Doch es war leichter, ideologisch verdächtige Generäle zu erschießen, als sie zu ersetzen. Wie das geschah und mit welchen Folgen, hat die britische Historikerin Catherine Merridale anhand von Tagebüchern, Feldpostbriefen, Berichten des Geheimdienstes und diverser Kommandostellen rekonstruiert. Ihre Analyse erklärt zumindest in Teilen die dramatischen Niederlagen der Roten Armee gegen die Wehrmacht im Sommer 1941.

In die frei werdenden Lücken, die die Säuberungen geschlagen hatten, rückten junge, ehrgeizige Offiziere und Kadetten ein. Ihnen zur Seite standen Politische Offiziere, sogenannte Politruks. Auf dem Höhepunkt seiner Macht 1942 umfasste Mechlis’ Apparat 250.000 Mann. Ihnen oblag die ideologische Ausbildung der Soldaten und die Kontrolle ihrer Offiziere, deren Befehle sie gegenzuzeichnen hatten. Die Zahl der Aufnahmeanträge für die Kommunistische Partei, die die Angehörigen eines Truppenteils stellten, wurde zum Maßstab ihrer Leistung.

20th January 1940: Dead Russians lying along the roadside after the Finnish victory at the Battle of Suomussalmi, in Finland. (Photo by Hulton Archive/Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Bei Suomussalmi erlitt die Rote Armee eine vernichtende Niederlage
Quelle: Getty Images

Doch von moderner Truppenführung hatten diese jungen Offiziere keine Ahnung. Sie hatten immer noch die klischierten Bilder über Männlichkeit, Heroismus und Selbstaufopferung im Kopf, mit denen die Rote Armee 1918 in den Bürgerkrieg gezogen war. „Die echten Anforderungen des modernen Krieges, wie taktisches Kalkül, Besonnenheit und Kenntnis der Waffentechnik wären dieser Generation schäbig erschienen“, schreibt Merridale. Stattdessen wollten auch sie Stalin zum Geburtstag eine Heldentat schenken, traten zu sinnlosen Attacken an und starben im Feuer der finnischen Scharfschützen.

Der Schaffung von erfahrenen Kadern, militärsoziologisch „Primärgruppen“ genannt, stand der Generalverdacht entgegen, diese könnten Abweichung und Verschwörung den Weg bereiten. Von den 46 Schützendivisionen der Roten Armee, die am 30. November 1939 die Offensive gegen Finnland eröffneten, hatten 13 im Winter zuvor noch gar nicht bestanden, die übrigen waren erst wenige Wochen vor dem Marschbefehl mit Rekruten aufgefüllt worden.

February 1940: Russian tanks captured by the Finns after the battle of Suomussali, in which the Soviet 44th Division were wiped out. (Photo by Topical Press Agency/Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Abgeschossene sowjetische Panzer bei Suomussali
Quelle: Getty Images

„Die Soldaten, Kommandeure und Politarbeiter unseres Regiments zeigten Mut, Heroismus und eine gewisse Bereitschaft, einander im Gefecht freundlich zu unterstützen“, fasste ein Politruk das Ergebnis seiner Schulungen stolz zusammen. Doch „Freundlichkeit“ konnte Vertrauen und Professionalität im Umgang mit Waffen nicht ersetzen, geschweige denn umsichtiges taktisches Verhalten.

Stalins Generäle wollten einen modernen Bewegungskrieg mit Panzern, Grenadieren und Flugzeugen führen. Aber seine Offiziere hatten keinerlei Vorstellung davon, welche Koordination man brauchte, um Infanterie, Geschütze und Kampfwagen gleichzeitig einzusetzen. Hinzu kamen erhebliche Bildungsdefizite der Rekruten. Merridale berichtet von einem Vorfall in einer Fernmeldeeinheit der 7. Armee, die in Karelien eingesetzt war. Ein Soldat schlug Alarm, der in Konfusion ausartete. Später entschuldigte er sich damit, er habe sein Porträt in einem Spiegel gesehen und für einen finnischen Heckenschützen gehalten.

Die Bunker und Stellungen der Mannerheim-Linie zogen sich durch Karelien
Die Bunker und Stellungen der Mannerheim-Linie zogen sich durch Karelien
Quelle: Infografik WELT
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Den Rest besorgte die Erfolglosigkeit. „Man hatte uns verkündet, dass die Rote Armee die Weißen Finnen wie mit einem Blitzstrahl zerschmettern würde“, klagte ein Soldat. „Aber ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht.“ Sie verbluteten vor den Bunkerlinien der Mannerheim-Linie, die der sowjetischen Aufklärung zuvor schlicht entgangen war. „Überall sind diese Bunker, wir können nicht einmal unsere Verwundeten und Toten bergen.“

Das lag nicht zuletzt an der selbstmörderischen Taktik, die Stalin der Roten Armee verordnet hatte. Im pausenlosen Angriff sollte sich die ideologische Gewissheit der Roten Armee manifestieren. „Das kam den Finnen sehr entgegen, deren Maschinengewehrschützen sowjetische Soldaten fast im Schlaf niedermähten“, schreibt Merridale.

1940: A Russian soldier frozen to death minutes after being shot by a Finnish sniper. (Photo by Keystone/Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Zehntausende Rotarmisten fielen dem Winter und dem Chaos an der Front zum Opfer
Quelle: Getty Images

Obwohl Desertion unter Todesstrafe stand, machten sich zahlreiche Soldaten, manchmal sogar ganze Einheiten aus dem Staub. In dem Chaos, das an der Front herrschte, und weil niemand wusste, wer für wen zuständig war, hatten sie gute Chancen, sich nach Hause durchzuschlagen. Andere setzten auf Selbstverstümmelung, um dem Krieg zu entfliehen. Wieder andere verlegten sich aufs Beutemachen. Merridale zitiert den Fall eines Politruks, der mit zwei Ledermänteln, vier Anzügen, Schuhen und einem ganzen Koffer voll gestohlener Kinderkleidung erwischt wurde.

Ein Überlebender berichtete, dass „dumpfe Apathie und Gleichgültigkeit gegenüber der drohenden Katastrophe“ die Soldaten vorantrieb, wenn keine Alternative als der Tod blieb. Statt einer Geburtstagsstimmung überkam Stalin eine tiefe Depression. Erst als sein Marschall Timoschenko mit neuen Truppen im Februar 1940 zu einer neuen Offensive einsetzte, verbesserte sich der Zustand des Diktators.

Dazu hatte Stalin das Seine beigetragen, indem er die Macht der Kommissare beschnitt, im Gegenzug die Zuständigkeiten der militärischen Kommandeure stärkte und 11.178 inhaftierte Offiziere wieder auf freien Fuß setzte (im offiziellen Sprachgebrauch kehrten sie „von einer langen, gefährlichen Mission“ zurück). Doch kaum hatte die Rote Armee gesiegt, kehrte die Angst vor den selbstbewussten Militärs zurück, und Lew Mechlis wurde wieder der „böse Dämon“ der Armee. Erst sein völliges Versagen 1942 auf der Krim und der deutsche Siegeszug im Kaukasus sollten Stalin bewegen, die Politruks endlich zu entmachten.

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