Nur ein Meter kann über Leben und Tod vieler Menschen entscheiden. Am 24. Mai 1944 war dies in Berlin der Fall, als die US Army Air Forces vormittags mit hunderten Bombern zum 200. Fliegerangriff auf die Reichshauptstadt starteten. Nach einer öffentlichen Luftwarnung um 10.30 Uhr ertönten um 10.48 Uhr die Sirenen des Fliegeralarms. Nach einer Dreiviertelstunde kam Entwarnung.
Vor allem der Bezirk Mitte wurde schwer getroffen, wie die Hauptluftschutzstelle der Berliner Stadtverwaltung berichtete: „Mit Ausnahme des Regierungsviertels und des Gebietes westlich bis nordwestlich des Stettiner Bahnhofs bildet fast der gesamte Bezirk eine zusammengeballte Schadenstelle, in der durch Abwürfe sehr zahlreicher Spreng- und Brandbomben umfangreiche Zerstörungen angerichtet wurden.“
Der Bericht listete die „bekannten schweren Verwüstungen eines Bombenteppichs“ auf und vermerkte „bemerkenswerte Schadenstellen“, darunter den Gendarmenmarkt, wo der Deutsche und der Französische Dom getroffen wurden. Ebenso der Berliner Dom am Lustgarten und das Stadtschloss nebenan, das Rote Rathaus und etliche Wohnhäuser. Insgesamt wurden an jenem Morgen 18.000 Personen obdachlos. Ebenfalls als beschädigt wurde aufgelistet: „U-Bahnbunker Dresdener Straße; U-Bahndecke Dresdener Straße“.
Diese unterirdische Luftschutzanlage hatte einen direkten Treffer auf ihre Decke erhalten – und dabei machte der besagte Meter einen großen Unterschied. Denn die Bombe schlug auf einen Stahlträger auf und explodierte dadurch unmittelbar beim Einschlag oberhalb der Decke. Diese wurde durch die Druckwelle nach innen eingedrückt. Wäre die Bombe nur ein kleines Stück daneben heruntergekommen, hätte sie die Decke durchschlagen und wäre unten im Raum detoniert. Das hätte wohl keiner der vielen Menschen überlebt, die sich dichtgedrängt dort aufhielten. So gab es „nur“ drei Tote und zwei Verwundete durch herabfallende Deckenteile.
Der Ort des Geschehens ist bis heute in großen Teilen erhalten. Und seit Kurzem kann er auch besichtigt werden. Möglich macht dies der Verein Berliner Unterwelten, der die zuvor völlig verfallene Anlage mit viel Aufwand instand gesetzt hat. In den Führungen erhalten Besucher detailreiche Erläuterungen zur Geschichte und Bauweise der Anlage. Und sie bekommen einen plastischen Eindruck von der gespenstischen, klaustrophoben Atmosphäre im Untergrund. Viele der originalen Beschriftungen an den Wänden sind noch erhalten: Neben einem Pfeil steht auf einer Betonwand der Hinweis „Zu den Aborten in den öffentlichen Schutzräumen“. Die Leuchtfarbe ist intakt, sie erhellt auch nach acht Jahrzehnten noch die Dunkelheit.
Neben größeren Aufenthaltsräumen sind Dutzende Kammern aneinandergereiht, die kaum breiter sind als die jeweils zwei Dreistockbetten, die in ihnen stehen. Ihre Enge ist beklemmend. Bis zu vier Familien teilten sich eine Kammer in der Anlage, die als „Mutter-und-Kind-Bunker“ konzipiert war. Das bedeutete, dass kinderreiche Familien aus der Umgebung sich Plätze in den Kammern sichern konnten, in denen die Mütter mit ihren Kindern prophylaktisch auch dann übernachteten, wenn es keine Bombenangriffe gab. Denn die Zeit, die sie nach dem Voralarm hatten, um die Kleinen fertigzumachen und in den Luftschutzraum zu gelangen, bevor die Bomben fielen, war viel zu knapp. Auch die Notküchen sind noch erhalten, in denen die Mütter ihren Kindern die Milch auf elektrischen Kochplatten erwärmen konnten.
Die Baugeschichte der Anlage begann lange vor dem Zweiten Weltkrieg, ursprünglich sollten hier U-Bahnen fahren. Dafür wurde in der Kaiserzeit und Weimarer Republik ein rund 450 Meter langer Tunnel mit Bahnhofsrohbauten in die Erde gesetzt. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde dann 1940/41 in einen Teil der Anlage der Mutter-und-Kind-Bunker eingebaut und weitere Abschnitte des Tunnels 1942 zum Luftschutzraum umfunktioniert.
Dabei wurde die Tunneldecke aber nicht verstärkt, sodass sie anders als beim neu eingebauten Bunkerabschnitt nicht bombensicher war. Die Luftschutzanlage war somit stellenweise eine „Mogelpackung“, die bei direkten Treffern keinen echten Schutz bot – und daher hätte die Bombe am 24. Mai 1944 die Decke durchschlagen, wäre sie nicht direkt auf dem Stahlträger gelandet.
Trotz ihrer Baumängel überstand die Anlage auch den 3. Februar 1945, als bei einem Angriff von rund 950 US-Bombern die gesamte Umgebung der darüberliegenden Luisenstadt in Schutt und Asche fiel. Tausende Todesopfer gab es an jenem Tag. Im Bunker unter der Dresdener Straße überlebten alle das Inferno.
Auch der in den Jahrzehnten danach folgende Kalte Krieg mit der deutschen Teilung hinterließ Spuren in der unterirdischen Anlage. Denn ein Teil von ihr lag nun unter Kreuzberg in West-Berlin, der andere Teil unter Mitte in Ost-Berlin. Die DDR-Behörden befestigten die Berliner Mauer auch im Untergrund und installierten Klingeldraht, der Alarm auslöste, wenn jemand versuchte, mit der Spitzhacke die dicke Wand zwischen Ost und West zu durchbrechen. Heute stehen Bunker und Tunnel auf Betreiben der Berliner Unterwelten unter Denkmalschutz.
Termine für die „Tour D – Tunnel und Bunker Dresdener Straße. Eine unterirdische Grenzerfahrung“ im Veranstaltungskalender und Online-Shop der Berliner Unterwelten e.V. Dauer: ca. 110 Minuten, Eintritt: 18 Euro.