Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine verbreiten manche Kommentatoren wieder einmal die Ansicht, der Westen trage eine Art historische „Mitschuld“ am aggressiven Kurs des Kremls. Man sei nach dem Ende des Kalten Krieges nicht auf Russland zugegangen; insbesondere die USA als Führungsmacht hätten daran kaum Interesse gehabt und das Thema vernachlässigt.
Ende Dezember 2021 – der russische Aufmarsch an der ukrainischen Grenze war bereits in vollem Gange – warf der frühere sowjetische Präsident Michail Gorbatschow den USA vor, sich kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion „arrogant und selbstgerecht“ verhalten zu haben.
Dokumente des US-Außenministeriums, deren Geheimhaltung unlängst aufgehoben wurde, zeichnen jedoch ein gänzlich anderes Bild. Das National Security Archive, eine Einrichtung der George Washington University, hat sie jetzt veröffentlicht. Neben bereits vorliegenden Memoiren der Beteiligten illustrieren die Dokumente, dass es in den frühen 1990er-Jahren in den USA den Willen gab, Russland zu helfen, es einzubinden.
Für US-Präsident Bill Clinton (im Amt von Januar 1993 bis Januar 2001) hatte das Thema hohe Priorität. Er glaubte, eine einmalige Gelegenheit zu haben: Russland zu helfen, ein demokratischer, marktwirtschaftlich orientierter Staat zu werden.
Die Gefährlichkeit der Lage war Clinton und seinem Team bewusst. Da waren das enorme Arsenal nuklearer Waffen in drei ehemaligen Sowjet-Republiken, eine russische Wirtschaft in rasanter Talfahrt sowie wachsende Spannungen zwischen Präsident Boris Jelzin und dem russischen Parlament.
Schon bevor Clinton das Amt des US-Präsidenten antrat, interessierte er sich für die Entwicklung Russlands. Er hatte im Wahlkampf mehr Wirtschaftshilfen gefordert und kritisiert, die noch amtierende Regierung von George H. W. Bush fahre einen zu zögerlichen Kurs.
In einer Rede vor der Foreign Policy Association in New York am 1. April 1992 sprach Clinton darüber; kurz zuvor hatte auch Richard Nixon, der ehemalige Präsident und Republikaner wie Bush, ein geheimes Memo an den amtierenden Präsidenten geschickt. Darin betonte er, Hilfen an Russland und vormals kommunistische Staaten seien keine bloße Wohltätigkeit, denn „was uns in Übersee hilft, hilft uns zu Hause“. Man müsse das so gefährliche wie kostspielige Szenario verhindern, dass Jelzin durch „einen neuen aggressiven Nationalisten“ ersetzt werde. Die Bush-Regierung kündigte daraufhin ein Hilfspaket an, das allerdings nur zum Teil verwirklicht wurde.
Im Juni 1992 kam es in Washington zum ersten Treffen des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Clinton mit Jelzin. Wie Clinton später in seiner Autobiografie schrieb, empfand er den russischen Staatschef – dessen Mut während des Putschversuchs 1991 er sehr bewunderte – als „höflich und freundschaftlich, aber etwas belehrend“. Dennoch mochte Clinton ihn auf Anhieb und machte Russland zu einer Top-Priorität seiner Außenpolitik.
„Gefahr bewaffneter Auseinandersetzungen“
Der Fokus von Clintons Wahlkampf lag auf der Innenpolitik, insbesondere der Wirtschaft (mit dem legendären Slogan „It’s the economy, stupid!“). Aber das Thema Russland blieb nach Amtsantritt im Januar 1993 weit oben auf der Tagesordnung. Dazu hatte auch Bushs scheidender Außenminister Lawrence Eagleburger beigetragen: Seinem Nachfolger in der Regierung Clinton Warren Christopher hinterließ er ein Memo, in dem er das Gelingen russischer Reformen als „Schlüsselfaktor für Frieden und Sicherheit in Eurasien“ bezeichnete. Besorgt zeigte sich Eagleburger über die mögliche Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Auch gebe es die Gefahr bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Russland und seinen Nachbarstaaten, „mit der Ukraine als zwar nicht wahrscheinlichste, aber sicherlich gefährlichste Möglichkeit“.
Man habe die Gelegenheit, ein sich reformierendes Russland und die Osteuropäer in ein stabiles europäisches System einzubeziehen. „Die Geschichte wird die Vereinigten Staaten nicht gut beurteilen, wenn wir jetzt keine großzügige Hilfe anbieten“, warnte er zudem in dem Memo, das jetzt im Rahmen des „Freedom of Information Act“ vom National Security Archive (nicht zu verwechseln mit dem identisch abgekürzten US-Geheimdienst National Security Agency) veröffentlicht worden ist.
Clintons späterer Russland-Beauftragter und Vize-Außenminister Strobe Talbott erinnerte sich in seinen Memoiren, wie vertieft Clinton in die Thematik direkt vor seiner Amtseinführung gewesen sei. Denn der scheidende Präsident Bush reiste für den Abschluss des Abrüstungsvertrags „Start II“ am 3. Januar 1993 nach Moskau.
Clinton habe intensiv über Russland nachgedacht. Primär seien dessen Wirtschaftskrise mit hoher Inflation und sogar der Gefahr eines Hungerwinters gewesen. Zwei Tage nach seiner Amtseinführung, also am 22. Januar 1993, telefonierte er mit Jelzin; das Gesprächsprotokoll wurde jetzt veröffentlicht. „Ich bin entschlossen, dass wir zusammen eine US-russische Partnerschaft schaffen können, die so eng wie möglich ist“, sagte Clinton. Er sagte „einen hohen Grad an persönlicher Mitwirkung“ zu.
Laut Talbott, der fließend Russisch spricht, machte der russische Präsident im Telefonat jedoch teils den Anschein, kaum zuzuhören; er sei betrunken gewesen und habe gelallt. Clinton, der mit einem Alkoholiker als Stiefvater aufgewachsen war, sei aber eher amüsiert als schockiert gewesen.
Bei fast allen weiteren Treffen und Unterredungen mit Jelzin sei dessen Alkoholismus auffällig gewesen, so Talbott; dem Verhältnis zu Clinton habe das aber keinen Abbruch getan. Russland sei immer ein persönliches Anliegen von Clinton geblieben. Nicht umsonst habe er den Experten Talbott – einen früheren Studienfreund und engen Vertrauten – zum Russland-Beauftragten gemacht.
Talbott erachtete Russlands Wandel gar als „nicht weniger als ein Wunder, das größte politische Wunder unserer Zeit, und eines der größten in der Geschichte der Menschheit“. Er glaube, bei Erfolg und entsprechender Unterstützung könne Russland eine vergleichbar positive Bedeutung wie die Gründung der Vereinigten Staaten, deren demokratisches System und Rolle in der Welt haben. So heißt es in im jetzt veröffentlichten Briefing Talbotts an US-Außenminister Christopher vom Februar 1993, entstanden vor dessen erstem Treffen mit dem russischen Außenminister Andrei Kosyrew.
Insbesondere dieses Schreiben Talbotts zeige, dass die Russland-Politik der Clinton-Jahre aufrichtig und ehrlich gewesen sei, resümiert das National Security Archive. Die Regierung habe „gute Absichten verfolgt“.
„Wir haben das Richtige zur richtigen Zeit getan“
Talbotts Vision eines russischen Wunders wurde jedoch nicht Wirklichkeit. Das zeigte sich bereits in Clintons zweiter Amtszeit, in der es Streit um die Nato-Osterweiterung gab. Im September 2022 sagte Clinton rückblickend: „Ich denke, wir haben das Richtige zur richtigen Zeit getan. Und wenn wir es nicht getan hätten, wäre diese Krise vielleicht noch früher eingetreten“. Er sei „heute mehr als damals davon überzeugt“, dass sie das Richtige getan hätten. „Als ich tat, was ich tat, bot ich Russland nicht nur eine besondere Partnerschaft mit der Nato an, sondern auch die Aussicht auf eine eventuelle Mitgliedschaft in der Nato“, so Clinton.
Nicht nur wegen der Nato-Erweiterung, auch wegen des Eingreifens des Westens in den Kosovokrieg gab es in den 1990ern neue Konflikte mit Russland. Im Dezember 1999 wies Jelzin die Proteste Clintons gegen Russlands zweiten Tschetschenienkrieg während eines China-Besuchs öffentlich brüsk zurück. Das anfangs gute Verhältnis zu Russland hatte schon da tiefe Risse bekommen. Und mit Putin sollte Nixons Sorge vor einem „neuen aggressiven Nationalisten“ in Russland bald darauf wahr werden.
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