Dichter Nebel herrschte an jenem Herbsttag Ende Oktober 1972. Das Wochenende war vorüber und am Morgen des 30. machten sich viele Menschen auf den Weg zu Arbeit, Schule und Studium. Der D-Zug 273 aus Aue über Leipzig nach Berlin war ziemlich voll. In der Früh war in Leipzig auch der Karola-Express gestartet, das Ziel Karlsbad. Mit Tempo 100 bis 120 kämpfte er sich durch den Nebel, die Sicht lag deutlich unter 100 Meter. An dem Bahnhof, an dem sich beide Züge auf der eingleisigen Strecke zwischen Crimmitschau und Werdau kreuzen mussten, betrug die Verspätung eine Viertelstunde.
Falk Löffler, damals 23 Jahre alt, stand an jenem Morgen in der Tischlerwerkstatt seines Vaters in Neukirchen einige Hundert Meter Luftlinie von der Bahnstrecke entfernt. „Plötzlich haben wir einen mörderischen Knall gehört“, erinnert er sich. Kurz darauf heulte die Sirene, die Männer eilten ins Gerätehaus ihrer Freiwilligen Feuerwehr und von dort mit weiteren Kameraden zum Unfallort. Sie zählten zu den ersten Helfern, vor sich ein Trümmerfeld.
Um 7.28 Uhr waren beide Züge auf eingleisiger Strecke in Schweinsburg-Culten, einem Ortsteil von Neukirchen, frontal zusammengeprallt, heißt es in den Ermittlungsakten. 25 Menschen wurden bei dem Unfall in den Tod gerissen, drei weitere sollen später in Krankenhäusern infolge schwerster Verletzungen gestorben sein. Von rund 70 Verletzten war die Rede. Der Schaden wurde auf 1,4 Millionen Mark beziffert. Es war einer der schwersten Eisenbahnunfälle in der damaligen DDR.
Mit Leitern machten sich die Helfer daran, zu den Verletzten in die Wagen vorzudringen. Mit bloßen Händen, Eisensägen und Meißeln versuchten sie, die Menschen aus den Trümmern zu befreien. Verletzte wurden behelfsmäßig auf Brettern transportiert, wie Löffler erzählt. „Überall war Wimmern und Weinen zu hören.“ Krankenwagen fehlten, sodass Verletzte per Feuerwehrauto und Privat-PKW ins Krankenhaus gefahren werden mussten. Derweil irrten unverletzt gebliebene Passagiere unter Schock über angrenzende Felder. Die Toten wurden auf einer Wiese neben der Bahnstrecke aufgereiht.
Viele Einsätze später hat der gestandene, inzwischen 73 Jahre alte Feuerwehrmann noch immer sichtlich mit den Eindrücken von damals zu kämpfen. „Das ging ans Limit“, bekennt Löffler. Als er jüngst seine Unterlagen zu dem Unglück noch einmal durchgesehen habe, musste er mit den Tränen kämpfen, sagt er. „Ich kann nur den Hut ziehen vor allen, die da geholfen haben. Sie haben Unglaubliches geleistet.“
In der Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) finden sich mehrere Berichte zu dem Unglück. Normalerweise hätten sich die Züge am Bahnhof Werdau gekreuzt, doch wegen Verspätungen und der Überlastung der Strecke wurde dies auf den Bahnhof Schweinsburg-Culten in Neukirchen verlegt. Doch der Fahrer des Karola-Express übersah dort das Haltesignal. Zudem hatte einer der beiden Triebfahrzeugführer den Fahrstand verlassen, obwohl er angesichts der Witterung seinen Kollegen bei der Strecken- und Signalbeobachtung hätte helfen müssen.
Beide seien „wiederholt für vorbildliche Leistungen ausgezeichnet“ worden und seit einigen Jahren im internationalen Reiseverkehr unterwegs, heißt es in den Akten. Doch die Gerichtsmedizin stellte bei der Untersuchung ihrer Leichen Restalkohol fest. Den Ermittlungen zufolge hatten sie nach Mitternacht etliche Flaschen Bier geleert und nach nur wenigen Stunden Schlaf die Fahrt angetreten. In einem als „streng geheim“ deklarierten Bericht vom 27. November 1972 heißt es zusammenfassend, dass der Triebfahrzeugführer den Unfall „schuldhaft verursacht“ habe und bei Fahrtantritt nicht voll dienstfähig war.
Doch intern gab es offensichtlich auch Kritik an den Bedingungen bei der Deutschen Reichsbahn. Die Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) des MfS hörte sich damals in der Bevölkerung und bei Bahnbediensteten um, wie in den Akten dokumentiert ist. Zum einen wurde demnach kritisiert, dass nicht alle Hauptstrecken zweigleisig ausgebaut waren – viele Gleise waren nach 1945 demontiert und in die Sowjetunion geliefert worden; zum anderen, dass automatische Bremsanlagen in den Zügen fehlten, die eine Schnellbremsung auslösen, wenn ein Haltesignal überfahren wird. Klagen gab es auch über Arbeitsüberlastung und viele Überstunden bei den Eisenbahnern.
In Zeitungen wurde damals zwar über den Unfall berichtet, aber eine offizielle Trauerfeier gab es nicht, wie Christian Meyer erzählt. Er ist selbst Eisenbahner, Gemeinderat und hat sich intensiv mit dem Geschehen von damals befasst. „Es wurde viel verschwiegen, solche Unfälle durften im Sozialismus nicht sein.“ Wenn Angehörige später Blumen an der Unfallstelle niedergelegt hätten, seien die kurz darauf eingesammelt worden. Erst 2002, am 30. Jahrestag des Unglücks, wurde erstmals offiziell der Opfer gedacht und ein Denkmal, gestaltet von einem örtlichen Schmied, errichtet: Zwei Eisenbahnschienen formen ein Andreaskreuz, darunter das Wagenrad eines Zuges.
Zum Jahrestag soll hier mit einer Schweigeminute an das Unglück erinnert und der Opfer gedacht werden, sagt Meyer. Daran will sich auch Löffler mit Feuerwehrkameraden beteiligen. Heute ist die Bahnstrecke zweigleisig. Wo einst ein Bahnübergang war, säumen Hagebuttensträucher und Birken die Gleise. „Wir wollen keinen großen Rummel“, sagt Löffler. „Ich möchte mit dieser Geschichte abschließen.“
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