Eine Aktennotiz aus dem britischen Nationalarchiv soll die These des russischen Präsidenten Wladimir Putin stützen, der Westen habe durch Erweiterung der Nato um unter anderem Polen und die drei baltischen Staaten eine Zusage von 1990 gebrochen. Aber ist das tatsächlich so? Was sagt die zunächst nur ausschnittsweise veröffentlichte, inzwischen vollständig vorliegende Aussage des Genscher-Vertrauten Jürgen Chrobog vom 6. März 1991 tatsächlich?
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Kaum jemand kennt sich mit dem Thema Streit um die Nato-Osterweiterung besser aus als der Osteuropa-Historiker und Filmautor Ignaz Lozo. Kürzlich erschien seine viel gelobte Biografie „Gorbatschow – Der Weltveränderer“. Von 1992 bis 2019 hat er insgesamt neun Interviews mit dem früheren sowjetischen Staats- und Parteichef geführt, außerdem mit zahlreichen anderen Politikern und Diplomaten, die direkt an dem Verhandlungsmarathon beteiligt waren, der schließlich zur Wiedervereinigung führte.
WELT: Welche Bedeutung hat die jetzt öffentlich gewordene Aktennotiz mit Jürgen Chrobogs Äußerung?
Ignaz Lozo: Die Aufmerksamkeit, die diese Aktennotiz bekommen hat, ist aufgebauscht. Sie erklärt sich offenbar nur dadurch, dass die Chrobog-Äußerung vom „Spiegel“ als „soeben aufgetaucht“ deklariert wurde. In grotesker Weise dient sie Moskau jetzt sogar als „Argumentationshilfe“ für die Putin-Legende von der westlichen Wortbrüchigkeit. Diese Aktennotiz ist historisch völlig irrelevant.
WELT: Wieso das? Immerhin traf ein enger Vertrauter von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher eine Aussage über die zukünftige Entwicklung der Nato?
Lozo: Langsam. Bei der jetzt hoch geschriebenen Aktennotiz handelt es sich um eine nachträgliche, subjektive Deutung des Vertrags, der sechs Monate zuvor unterschrieben wurde. Zweitens ist Chrobogs Kernsatz sachlich falsch. Er lautet: „Wir haben in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen deutlich gemacht, dass wir die Nato nicht über die Elbe hinaus ausdehnen.“ Doch im Zwei-plus-Vier-Vertrag kommen weder das Wort Nato geschweige denn die Wörter Osterweiterung oder Ausdehnung gen Osten vor.
WELT: Wollen Sie damit sagen, dass während der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen über die anderen osteuropäischen Staaten gar nicht gesprochen wurde?
Lozo: Genau! In den Verhandlungen nie. Und darauf kommt es ja an. Über Litauen, Lettland und Estland schon mal gar nicht. Denn die waren 1990 noch völkerrechtswidrig Sowjetrepubliken. Der Vertragsname Zwei-plus-Vier sagt doch schon, dass es nur um Gesamtdeutschland, also Bundesrepublik und DDR, ging – und um die „Deutschlandrechte“ der vier Siegermächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich. Nur bei dem Zwei-plus-Vier-Treffen in Paris im Juli 1990 wurde der Außenminister Polens hinzugezogen, weil es um die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnischer Westgrenze ging. Das wurde in dem Vertrag dann festgehalten.
WELT: Genscher ist nicht der einzige westliche Spitzenpolitiker, der sich 1990 gegen eine Nato-Osterweiterung ausgesprochen hat ...
Lozo: ... Genscher hat sich Anfang 1990 sogar gegen eine generelle Nato-Osterweiterung ausgesprochen. So what? Er hatte keinerlei Prokura. Der damalige Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg widersprach ihm heftig. Das war also nicht einmal die Position der Bundesregierung. Ich habe Genscher 2015 einige Monate vor seinem Tod zu seinem Osterweiterungssatz befragt. Er sagte: „Wir haben damals alle möglichen Optionen besprochen, aber keine Vorschläge gemacht. Das war auch nicht Gegenstand der Verhandlungen mit der Sowjetunion.“
WELT: ... aber US-Außenminister James Baker soll das am 9. Februar 1990 ebenfalls getan haben ...
Lozo: Ja, auch Baker sprach sich anfangs gegen eine Erweiterung aus. Wieder: So what?
WELT: Wie erklären Sie sich denn Bakers Äußerung?
Lozo: Erste Gehversuche auf politischem Neuland! Baker sagte mir: „Ich hatte das weder mit dem Weißen Haus noch mit dem Nationalen Sicherheitsrat abgestimmt. Zwei Tage nach meinen Äußerungen gegenüber Gorbatschow zur Nato-Erweiterung änderten die USA ihre Position. Die Sowjets wussten das, und sie verloren kein Wort darüber.“ Es widerspräche gesundem Menschenverstand anzunehmen, dass ein Staat einen Sicherheitsvertrag unterschreibt, ohne dass seine Sicherheitsinteressen darin berücksichtigt wären. Baker weiter: „Wie kann man jetzt kommen und behaupten, es habe mündliche Zusagen gegeben, die über dem Vertrag stehen?“
WELT: Schon der Westen war sich also damals unklar, aber wie war es in Moskau? Erstaunlicherweise gibt es von Michail Gorbatschow einander diametral widersprechende Äußerungen in Interviews ...
Lozo: Gorbatschow hat sich 2014 in meinem ZDF-Interview anlässlich der Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag des Mauerfalls kritisch gegenüber der Presse geäußert, die einiges verdrehen würde. Wenn er sagt, über die Nato-Osterweiterung sei während der Deutschlandverhandlungen nicht gesprochen worden, hat er recht. Dass aber außerhalb des Zwei-plus-Vier-Rahmens der Wunsch Polens oder Ungarns nach einer Beitrittsperspektive gelegentlich ein Thema war, ist ebenfalls unbestritten. Da wird aber nicht genügend differenziert.
WELT: Hatte denn Gorbatschow eine klare Linie?
Lozo: Er hat wie der Westen auch seine Position geändert. Ich sehe da nichts Widersprüchliches. Gorbatschow wollte die Nato-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands ursprünglich verhindern, musste sich aber letztlich der KSZE-Schlussakte beugen, die die Sowjetunion ja selbst unterschrieben hatte. Die Akte gibt jedem Land das Recht, sein Bündnis frei zu wählen. Energisch bestreitet er Unterstellungen, er sei bei der Nato-Osterweiterung betrogen worden. Das liege auch daran, dass es keine eingeschränkte Souveränität eines Staates geben könne, wie er sagte.
WELT: Gelegentlich wird behauptet, die Genscher- und Baker-Äußerungen hätten Gorbatschow bei seinem Treffen mit Kohl in Moskau am 10. Februar 1990 erst dazu bewogen, der deutschen Einheit grundsätzlich zuzustimmen. Stimmt das?
Lozo: Diese Deutung ist haltlos. Am 26. Januar, also zwei Wochen zuvor, hatte Gorbatschow in einer Geheimsitzung mit seinem engeren Kreis die DDR abgeschrieben und die Zweistaatlichkeit aufgegeben. Die Einschätzungen des KGB-Chefs und des sowjetischen Ministerpräsidenten waren, dass die DDR nicht mehr zu halten sei und die Sowjetbürger darauf einzustimmen seien, dass Deutschland wiedervereinigt werde. Wie dem Protokoll weiter zu entnehmen ist, beauftragte Gorbatschow den Generalstabschef sogar schon, einen Plan für den Abzug der Sowjetarmee aus der DDR auszuarbeiten.
WELT: Sehr wichtig scheint also der zeitliche Ablauf der Gespräche zwischen Januar und September 1990 zu sein?
Lozo: Ja, absolut. Zahlreiche Befugte und Unbefugte in Ost und West meldeten sich zu Wort in der Orientierungsphase nach dem Mauerfall, die eher eine Desorientierungsphase war aufgrund der Wucht dieses Jahrhundertereignisses. All diese Äußerungen hatten null Relevanz bezüglich der Verbindlichkeit. Auch in der Sondierungsphase war das so, die am 21. März 1990 mit dem ersten Treffen der Politischen Direktoren der Zwei-plus-Vier-Staaten einsetzte. Erst am 5. Mai 1990 wurde es relevant mit der Verhandlungsphase. Die erste Konferenz fand in Bonn statt, die letzte am 12. September in Moskau mit der Unterzeichnung.
WELT: Hat Russland denn nach der Wiedervereinigung die Bemühungen der Nato um eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa mitgetragen?
Lozo: Auf jeden Fall. Unter Präsident Boris Jelzin trat Russland nicht nur der „Partnerschaft für den Frieden“ bei, die eine Vorstufe für eine Nato-Mitgliedschaft war. Zuvor, am 25. August 1993, sagte er bei seinem Besuch in Warschau hinsichtlich eines Nato-Beitritts Polens: „Die Zeiten sind vorbei, als die Russen nach Warschau reisten, um den Polen Vorschriften zu machen.“ Und nach der Unterzeichnung der Nato-Russland-Grundakte 1997 gab es die weltberühmten Aufnahmen, bei denen Jelzin den Nato-Generalsekretär küsste. Es war die Nato, die damals neue Beitritte verzögerte.
WELT: Wann und vor allem warum hat sich hier eine Änderung ergeben?
Lozo: Das war 2007/08 unter Putin. Obwohl auch er mit der Gründung des Nato-Russlandrates im Jahre 2002 auf Kooperationskurs war. Ein Jahr zuvor richtete die Nato sogar ein Informationsbüro in Moskau ein. Die Stimmung kippte spätestens 2008, als Präsident Georg W. Bush der Ukraine und Georgien brachial eine Beitrittsperspektive eröffnete – gegen den Willen Frankreichs und Deutschlands! Erst ab da begann Russland mit der Wortbrüchigkeitslegende gegenüber dem Westen, 2014 dann massiv bei der Annexion der Krim.
WELT: Das Thema „Verrat des Westens an Russland durch die Nato-Osterweiterung“ ist emotional enorm aufgeladen. Wieso eigentlich?
Lozo: Hier geht es vor allem um Ehre, Anstand, Verlässlichkeit. Niemand lässt sich gern in die Ecke eines Betrügers stellen. Dass dieser Vorwurf ausgerechnet vom Völkerrechtsbrecher Putin kommt, ist schon fast tragikomisch.
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