Der Schein der Legitimität ist begehrt. Selbst skrupellose Diktatoren und Kriegstreiber bemühen sich, ihre grundlos begonnenen Konflikte vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Irgendwer, so das Kalkül, wird ihnen schon glauben.
Sowohl den Überfall auf Polen 1939 wie jenen auf die Sowjetunion zwei Jahre später begründete Hitler mit angeblich bevorstehenden Attacken der Gegenseite. Das glaubte weder in seiner eigenen Führung noch im Ausland irgendjemand. Dennoch gibt es auch ein Dreivierteljahrhundert später immer noch Menschen, die von „Präventivkriegen“ reden.
Offenbar orientiert sich Wladimir Putin auch in dieser Hinsicht an Adolf Hitler. Darauf lässt jedenfalls die Penetranz schließen, mit der Russlands Präsident eine ähnlich durchsichtige Begründung für seinen Kurs des überwiegend noch kalten, in der Ostukraine aber schon heißen Krieges gegen Europa verbreitet. Der Lohn ist schon heute begeisterte Unterstützung – übrigens gleichermaßen bei der Linkspartei wie bei der AfD.
Es geht um den angeblichen Verrat des Westens, namentlich der USA und Deutschlands, an Russland, was die Osterweiterung der Nato nach dem Untergang des sowjetischen Blocks betrifft. Anlässlich des 25. Jahrestages der entscheidenden Gespräche zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und KPdSU-Chef Michail Gorbatschow im Kaukasus Mitte Juli 1990 zeigt jetzt der öffentlich-rechtliche Informationssender Phoenix eine hochinteressante Dokumentation von Ignaz Lozo, die zuverlässig die verwirrenden Hintergründe aufdröselt.
Dabei beginnt der Film wie eine Parteinahme zugunsten von Putin: Es werden diplomatische Gespräche zwischen Gorbatschow, Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher sowie deren US-Kollegen Außenminister James Baker in Moskau im Februar 1990 zusammengefasst.
Hinzu kommen einige „Tageschau“-Schnipsel, in denen der damalige Bundesaußenminister die Ansicht vertrat, die Nato solle nicht nach Osten ausgeweitet werden. Über diese „persönliche Meinung“ Genschers kam es sogar im Kabinett Kohl zum öffentlich ausgetragenen Disput.
Schließlich darf der langjährige Deutschland-Experte des Kreml, Valentin Falin, mit sorgenvoller Miene in die Kamera sagen: „Es gab die Erklärung von Außenminister Baker, dass sich die Nato nach der Wiedervereinigung nicht um einen Zoll nach Osten ausdehnt. Das hat Baker doch gesagt.“
Michail Gorbatschow (Jg. 1931) – Stationen
Keinesfalls sollte man den Fehler begehen, an dieser Stelle umzuschalten, weil man weitere Putin-Propaganda in einem öffentlich-rechtlichen deutschen Sender nicht anhören möchte. Hat man sie doch schon bisher oft genug serviert bekommen, von den stets in eine der viel zu vielen Talkrunden eingeladenen Linkspolitikern.
Doch Lozo und der zuständige ZDF-Redakteur Jean-Christoph Caron konfrontieren die Behauptung vom Verrat des Westens an Russland an dieser Stelle ganz schlicht mit der Realität. Aus dem Off erklärt der Sprecher: „Gorbatschow stellte beim Kohl-Besuch aber keine Bedingungen für die Vereinigung. Beide verabredeten, den militärischen Status in den künftigen Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zu erörtern.“ Wozu überhaupt noch verhandeln, wenn es angeblich schon ein Zugeständnis an die Sowjetunion gab?
In Wirklichkeit, das zeigt die Phoenix-Dokumentation, handelte es sich bei den von Falin, Putin und ihren deutschen Helfershelfern so gern angeführten angeblichen „Zusagen“ lediglich um Momentaufnahmen aus Vorgesprächen – teilweise nicht durchdacht, teilweise missverständlich.
Im Interview sagt es James Baker dann unmissverständlich: Zwei Tage nach seiner vagen Äußerung in Moskau entschied das Weiße Haus, dass man über eine solche in sich unlogische Position – Deutschland nur zur Hälfte (oder geografisch korrekt: zu gut zwei Dritteln) in einem Bündnis – gar nicht sinnvoll verhandeln könne.
Die USA bestanden vielmehr darauf, dass das vereinigte Deutschland vollständig Nato-Mitglied werde. Das diente nicht einer Konfrontation mit der Sowjetunion, deren Militärbündnis Warschauer Pakt weiter bestand, sondern der Einbindung des künftigen, größeren Deutschlands in eine internationale Sicherheitsstruktur.
Ohnehin ging es in allen Gesprächen über die Nato 1990 stets nur um die Frage, welchen Status das vereinigte Deutschland haben sollte – Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei standen überhaupt nicht zur Diskussion, erst recht nicht die baltischen Staaten und die Ukraine, die zum Zeitpunkt der Verhandlungen ja noch Bestandteil der Sowjetunion waren.
So gab es in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen vor allem den Streitpunkt, ob die künftige Bundesrepublik einschließlich der in ihr aufgegangenen DDR Mitglied im westlichen Bündnis sein sollte. Die Positionen waren klar: Für die Sowjetunion sagte Außenminister Eduard Schewardnadse: „Njet“. Die USA machten genau das zur Voraussetzung der Wiedervereinigung.
Darüber wurde am Verhandlungstisch diskutiert – nur darüber. Über einen späteren Beitritt von Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes zur Nato wurde kein Wort gewechselt. Warum auch: Diese Frage stand 1990 überhaupt nicht an.
Trotzdem war die Nato-Mitgliedschaft Deutschlands der gordische Knoten der Verhandlungen – bis US-Präsident George Bush bei Gorbatschows Besuch in Washington nachfragte: Ob denn nicht auch für das vereinigte Deutschland der Grundsatz der Bündnisfreiheit gelte, den die Sowjetunion schon 1975 mit der Schlussakte von Helsinki anerkannt hatte? Der KP-Chef musste dem zustimmen.
Zwar versuchte Gorbatschow zwei Wochen später, diese Zusage zurückzunehmen und eine Doppelmitgliedschaft des vereinigten Deutschlands in Nato und Warschauer Pakt durchzusetzen. Doch die USA blieben hart, denn solch eine widersinnige Regelung hätte indirekt das Ausscheiden der Bundesrepublik aus dem westlichen Bündnis zur Folge gehabt.
So kam es Mitte Juli 1990 im Kaukasus zu den als entscheidend geltenden Gesprächen – dem berühmten Strickjackentreffen. Offizielle Bilder gibt es davon nur wenige. Filmemacher Lozo und Redakteur Caron können jedoch private Aufnahmen des damaligen deutschen Botschafters Klaus Blech zeigen, die erstmals zu sehen sind. Doch eigentlich war „der Zug schon abgefahren“, gibt Valentin Falin Gorbatschows Einsicht während der Besprechungen wieder – bis heute sichtlich wütend.
Putin versuchte, die Dreharbeiten zu verhindern
Damit ist eigentlich alles Notwendige gesagt. Doch weil Fernsehen von Bildern lebt, bringen Lozo und Caron nun auch erstmals mögliche Aufnahmen aus dem Verhandlungsort, einer Datscha für Staatsgäste. Im letzten Moment versuchte Putins Präsidialamt, die Dreharbeiten von Phoenix zu unterbinden.
Spannend inszeniert ist der Ablauf der Gespräche. Wichtig ist aber, dass es auch an diesem 16. Juli 1990 niemals um eine denkbare Erweiterung der Nato nach Osten ging, sondern stets nur um die Mitgliedschaft Deutschlands im westlichen Militärbündnis.
Einen Verrat des Westen an der Sowjetunion oder Russland hat es nie gegeben – das legt die Dokumentation eindeutig dar. Verraten hat hingegen Wladimir Putin die Friedensordnung Europas. Erst durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, dann durch die militärische Unterstützung der ostukrainischen Separatisten. Daran ändern alle Rechtfertigungsversuche und Vorwürfe an die Adresse der Nato nichts.
„Poker um die deutsche Einheit: Wurde Russland in der Nato-Frage getäuscht?“, 14. Juli, 21 Uhr, Phoenix