Die Gewöhnung an die Freiheit dauerte meist etwa zwei Wochen. So lange saßen jene in der Regel politischen Häftlinge des SED-Regimes, die von der Bundesregierung freigekauft worden waren, vor ihrer Ausreise nach Westdeutschland im Hafttrakt B des Gefängnisses Kaßberg mitten im vielleicht schönsten Wohnviertel von Chemnitz. „Tagsüber offene Zellentüren, Westzigaretten und ein Essen, von dem ich später noch schwärmen sollte“, erinnerte sich ein ehemaliger Häftling.
Der Grund für diese bevorzugte Behandlung war natürlich keineswegs Menschlichkeit. Vielmehr sollten die Freigekauften bei möglichst guter Gesundheit sein, wenn sie in der Bundesrepublik ankamen. Allzu offensichtliche Indizien für die unhaltbaren Zustände in den regulären DDR-Haftanstalten waren zu vermeiden. Kein Zufall, dass dieser Block im Stasi-Jargon „Päppelanstalt“ genannt wurde. Die zeitweisen Insassen kannten einen anderen Namen: „Vogelkäfig“. Denn in den gesamten 26 Jahren des Freikaufs stand auf DDR-Seite stets derselbe Mann: der Ost-Berliner Rechtsanwalt und Honecker-Vertraute Wolfgang Vogel.
Allein im letzten Jahr von Erich Honeckers Herrschaft wurden noch 1840 Menschen aus der DDR befreit. Insgesamt kaufte die Bundesrepublik seit 1963 genau 33.755 Häftlinge frei, für addiert rund 3,5 Milliarden DM, teils in bar, meist aber als Warenlieferung. Es war moderner Menschenhandel.
An dieses Kapitel deutsch-deutscher Geschichte erinnert künftig ein Gedenkort im Chemnitz, das zu DDR-Zeiten den ungeliebten Namen Karl-Marx-Stadt trug. Der Hafttrakt B des Gefängnisses Kaßberg, erbaut 1876/77, wird bis Ende 2022 zum Ausstellungsraum umgebaut. Auf vier Ebenen wird dann außer an die besondere Nutzung für die Geschäfte Vogels an die Gebäudegeschichte, an die Nutzung im Nationalsozialismus sowie durch den sowjetischen Geheimdienst und anschließend das Ministerium für Staatssicherheit erinnert. Einen vorläufigen Gedenkort im Außenbereich gibt es bereits seit 2017.
Das Kaßberg-Gefängnis ist ein Schauplatz deutsch-deutscher Geschichte. Errichtet als Teil eines seinerzeit hochmodernen Justizzentrums orientierte es sich an Vorbildern aus Großbritannien. Um einen zentralen Bau, die Rotunde, lagen drei Flügel mit Zellen; die vierte Seite bildete ein Verwaltungsgebäude. Einer der drei Häftlingsflügel wurde 1936 erweitert – in der NS-Zeit gab es immer zu wenig Zellen.
1945 übernahm der sowjetische Geheimdienst NKWD das Gefängnis. Hier saßen neben wirklichen NS-Kriegsverbrechern auch zahlreiche Menschen ein, die sich dem Machtanspruch der SED nicht unterordnen wollten. „Viele Inhaftierte verurteilte ein in der Nähe der Haftanstalt tagendes Sowjetisches Militärtribunal in rechtsstaatswidrigen Schnellverfahren zu drakonischen Haftstrafen (20 bis 25 Jahre) oder gar zum Tode“, heißt es auf der Website des federführenden Vereins.
1952 übergab das NKWD das Gefängnis dann an die DDR-Staatssicherheit. Mit zuletzt 163 Zellen für bis zu 329 Häftlinge bot es mehr Platz als die viel bekannteren Stasi-Haftanstalten in Berlin-Hohenschönhausen oder im ostsächsischen Bautzen. Im Laufe der Zeit saßen hier Zehntausende politisch Verfolgte ein, darunter gescheiterte Fluchtwillige und Dissidenten. Einen gesonderten Teil des Gefängnisses übernahm die eigens für die „Sicherung“ der Uranförderung im Erzgebirge zuständige MfS-Objektverwaltung „W“ – wie Wismut – als eigenständige Untersuchungshaftabteilung.
Der Ausbau des Häftlingsfreikaufs (nach dem mit nur acht Personen bescheidenen Beginn 1963) brachte dem Gefängnis eine neue Funktion: Hier wurden die freizulassenden Gefängnisinsassen zusammengeführt, um dann nach einer Zeit in der „Päppelanstalt“ und strikt getrennt von den Insassen der anderen Flügel gesammelt mit westdeutschen Bussen (später sogar mit elektrisch betriebenen drehbaren Kennzeichen) unauffällig in die Bundesrepublik gebracht zu werden. Rund 90 Prozent der Freigekauften waren mehr oder weniger lange in Kaßberg.
Die Fahrt in die Freiheit beschreiben die meisten Häftlinge als sehr emotional. Die Fahrzeuge eines hessischen Fuhrunternehmers nannten sie nur den „Wunderbus“. Meist war Vogel dabei – und gab sich dabei nach Aussagen von Augenzeugen gern generös. Die Bundesrepublik schloss mit ihrem Eingehen auf Vogels Menschenhandel viele Lücken, die der DDR-Mangelwirtschaft sonst noch zusätzlich zugesetzt hätten. Trotzdem war es natürlich ein teuflisches Geschäft.
Auf westdeutscher Seite für lange Zeit verantwortlich war der Jurist und Ministerialbeamte Ludwig Rehlinger. „Gewiss, es war ein unschöner Handel – Menschen gegen Geld“, erinnerte sich der heute 94-Jährige: „Ein Geschäft mit den Unterdrückern, mit denen, die für Not der Menschen verantwortlich waren. Unter dem moralischen Aspekt sicher keine feine Sache.“
Für ihn gab es dennoch keinen Zweifel: „Solange die Gegenleistung nur in schnödem Mammon bestand und wenn keine politischen Falltüren eingebaut waren, dann musste man sich dieser Sache annehmen – höchst vorsichtig und mit großem Misstrauen.“ Im künftigen Erinnerungsort Kaßberg gebührt Rehlinger ohne Zweifel ein besonderer Platz.
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