Ein weißer Strich von wenigen Zentimetern Breite quer über den Asphalt – mehr trennt auf der Kreuzung Zimmer- / Friedrichstraße den Berliner Bezirk Kreuzberg nicht vom Bezirk Mitte. Und doch verläuft genau hier die heißeste Grenze im Kalten Krieg, stoßen hier freie Welt und kommunistischer Block direkt aufeinander. Am 27. Oktober 1961 wird die Brisanz dieser Kreuzung schlagartig deutlich.
Angespannt ist die Lage hier schon seit zehn Wochen, seit die DDR-Staatspartei SED die drei Westsektoren der Stadt abgeriegelt hat. Doch an diesem Freitag spitzt sich die Situation abermals zu: Kurz vor 17 Uhr rollt plötzlich fast wie in Zeitlupe eine Kolonne Panzer aus Ost-Berlin die Friedrichstraße nach Süden. Sechs oder sieben Häuserblocks trennen sie noch vom Kontrollpunkt des westlichen Alliierten, bekannt als Checkpoint Charlie, als der diensthabende Militärpolizist der US-Army an dem Häuschen auf West-Berliner Seite des weißen Strichs sie sieht.
Sein Vorgesetzten ordnet sofort drastische Gegenmaßnahmen an: Eine Kolonne US-Panzer soll südlich des weißen Strichs Aufstellung nehmen. Deren Kommandant nimmt auf die Befindlichkeiten der West-Berliner wenig Rücksicht: Er lässt, obwohl nachmittäglicher Berufsverkehr herrscht, zum Checkpoint poltern – ohne auf zivile Autos Rücksicht zu nehmen. Viele erwachsene Augenzeugen fühlen sich an die Tage Ende April 1945 erinnert, als zuletzt Kampfpanzer mit vollem Tempo durch die Innenstadt gedonnert sind.
Als die US-Verstärkung ankommt, sind die Panzer auf der anderen Seite bis auf zwei Häuserblocks an den weißen Strich herangerollt. Konzentriert starren die US-Militärpolizisten durch ihre Feldstecher nach Norden. Doch sie können die Stahlkolosse vom Typ T-54, dem neuesten Modell im Arsenal des Ostblocks, nicht identifizieren: Ihre Markierungen sind grau-grün übermalt, die Besatzungen tragen schwarze Uniformen ohne Abzeichen. Hat die Nationale Volksarmee der DDR sie geschickt? Oder richten sowjetische Soldaten ihre Kanonen auf den Checkpoint Charlie?
Auf jeden Fall ist klar: Die andere Seite hat mehr Panzer in der Friedrichstraße als die Amerikaner. Denn es stehen gerade einmal fünf US-Tanks sofort zur Verfügung. Allein dieses Zahlenverhältnis ist ein triftiger Grund, sich mulmig zu fühlen.
Tag für Tag spielen sich in Berlin seit dem 13. August 1961 dramatische Szenen ab, riskieren verzweifelte Menschen ihr Leben, um in den nun eingemauerten, aber freien Westen zu kommen. Dabei sind schon mindestens acht Menschen ums Leben gekommen. Offenkundig, das wissen die US-Soldaten in West-Berlin, sind die DDR-Uniformierten bereit, ohne Rücksicht auf Verluste zu töten, um Fluchtversuche zu verhindern. Aber legen sie sich auch mit den USA an? Die in Berlin ebenso wie Großbritannien, Frankreich und natürlich die Sowjetunion Sonderrechte genießen. Genauer: die bestimmen, was in den vier Sektoren sein darf und was nicht.
Anfang Oktober 1961 hat es einen Vorfall gegeben, der genau darauf hindeutete: An den Übergangsstellen in den Ostsektor Berlins sollten sich nun auch politischen und militärischen Vertreter der drei westlichen Schutzmächte von Angehörigen der ostdeutschen Volkspolizei kontrollieren lassen. Das hätte den Vier-Mächte-Status auf den Kopf gestellt und zu einer schweren politischen Niederlage der Nato geführt.
Anders als die Briten und Franzosen reagierten die Amerikaner heftig, denn sie fürchteten, dass sich die West-Berliner Bevölkerung von ihnen abwenden und damit ihre Präsenz in der Stadt grundsätzlich infrage stellen könnte. Der pensionierte General Lucius D. Clay, Sieger in der ersten Schlacht des Kalten Krieges, der Berliner Luftbrücke 1948/49, und nach dem Mauerbau von Präsident John F. Kennedy als persönlicher Vertreter in die geteilte Stadt geschickt, hatte eisenhart reagiert.
Am Checkpoint Charlie ließ er eine „schnelle Eingreiftruppe“ in Bereitschaft stehen: drei Army-Jeeps mit zwölf bewaffneten Militärpolizisten. Sie nahmen den US-Offizier in Zivil, der trotz des US-Kennzeichens seines Autos von ostdeutschen Uniformierten abgewiesen worden war, weil er sich nicht ausweisen wollte, in die Mitte und geleiteten ihn unkontrolliert nach Ost-Berlin. Die DDR-Grenzer zogen sich zurück und gaben den Weg frei.
Ganz korrekt handelte Clay freilich nicht, denn laut Vier-Mächte-Status durften Soldaten der Besatzungsmächte den Sektor einer anderen Siegermacht nur unbewaffnet betreten. Kein Wunder, dass die Stimmung bei den US-Soldaten am Checkpoint seither angespannt ist. Denn es war klar, dass noch etwas nachkommen würde.
Zuerst am 22. Oktober – da wurde dem Chef der US-Mission der Zugang nach Ost-Berlin verweigert; er hatte gemeinsam mit seiner Frau eine Aufführung in der Staatsoper Unter den Linden besuchen wollen. Dann am 25. Oktober: Wieder wurden zwei amerikanische Offiziere zurückgewiesen. Clay ließ daraufhin auf südlicher, also westlicher Seite der Mauer in der Zimmerstraße zehn Panzer auffahren. Zwei von ihnen, ausgestattet mit Räumschilden, brausten auf den weißen Strich zu und stoppten erst unmittelbar davor. Dank seiner breiten Ketten brauchte ein M-48 nur einen Bremsweg von wenigen Zentimetern.
Die Gegenseite reagierte nicht, jedenfalls nicht erkennbar. Hinter den Kulissen aber rumorte es gewaltig. In Moskau fand gerade der Parteitag der KPdSU statt. Am Rande scharte Generalsekretär Nikita Chruschtschow einige Vertraute um sich, der sich schnell auf das weitere Vorgehen einigte: Als Oberkommandierender der sowjetischen Truppen wurde Iwan Konew nach Berlin geschickt, ein besonnener, sehr erfahrener und intelligenter Marschall der Roten Armee. „Sein Erscheinen wird schon einige Hitzköpfe in der DDR abkühlen“, begründete Chruschtschow seine Wahl.
Doch am 27. Oktober nachmittags sieht es erst einmal nicht nach Deeskalation aus: Auf beiden Seiten des weißen Strichs stehen Panzer, die Kanonen aufeinander gerichtet. Entscheidend ist jetzt die Frage: Handelt es sich um sowjetischen Panzer oder um Fahrzeuge der DDR? Und was hat es zu bedeuten, dass die Markierungen übermalt sind?
Ein US-Militärpolizist bekommt den Auftrag, über den weißen Strich zu fahren und in Ost-Berlin die Lage zu sondieren. Er trägt Uniform und wird von den DDR-Grenzern anstandslos durchgelassen. Nachdem sein Fahrer und er an den Panzern vorbeigerollt sind, halten sie an. Der US-Leutnant geht zurück, steigt mit klopfendem Herzen auf den letzten Panzer in der Kolonne, schaut in die offene Luke – und sieht: Alle Anzeigen sind in Kyrillisch beschriftet, neben dem Fahrersitz liegt eine Zeitung in russischer Sprache. Er hört auch einige Panzersoldaten Russisch miteinander sprechen. Das reicht ihm: Er steigt wieder ins Auto und fährt zurück.
Es handelt sich um sowjetische Panzer. Der Kommandeur des Checkpoint Charlie lässt sich mit General Clay verbinden. Der Sonderbeauftragte des US-Präsidenten ist für einen Moment sprachlos, fängt sich dann aber rasch. Sowjetische Panzer. Also ist Iwan Konjew sein Gegenüber, nicht ein ostdeutscher Offizier oder sogar ein Politbürokrat der SED. Der sowjetische Marschall aber wird kein tödliches Risiko eingehen, da ist sich Clay sicher.
Der Nervenkrieg ist damit beendet, die Situation geklärt. Zwar stehen sich die beiden Panzerkolonnen noch die ganze Nacht gegenüber, rücken erst am 28. Oktober wieder ab. Aber das ist nur noch Show. Konews Signal ist deutlich: Am Vier-Mächte-Status hat sich nicht geändert. Die eigentliche Macht in Ost-Berlin liegt, jedenfalls so weit es den Kontakt mit den USA angeht, bei der Sowjetunion.
Nach dem 27. Oktober 1961 werden DDR-Grenzpolizisten nie wieder versuchen, uniformierte Amerikaner zu kontrollieren. Dafür steht vielmehr fortan meist ein sowjetischer Offizier bereit – damit haben die USA kein Problem. Am weißen Strich auf der Kreuzung Zimmer- / Friedrichstraße herrschen für die folgenden 28 Jahre und zwölf Tage klare Verhältnisse.
Sie finden „Weltgeschichte“ auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.