In der Herz-Jesu-Nacht gingen in Südtirol die meisten Lichter aus – jedenfalls die elektrischen. Während vielerorts am Abend des 11. Juni 1961 an den Südhängen der Alpen wie stets am dritten Sonntag nach Pfingsten große Scheiterhaufen als Bergfeuer den Abend erhellten, zur Erinnerung an den Tiroler Freiheitskampf von 1809 und seinen Helden Andreas Hofer, flogen in der Doppelprovinz Trentino-Alto Adige 37 Strommasten in die Luft, 19 davon allein rund um Bozen.
Doch die Tradition war gewiss nicht der einzige Grund, dass just diese Nacht zur „Feuernacht“ wurde. Denn am Dienstag, dem 13. Juni, sollten in Zürich Expertengespräche über Südtirol beginnen; die österreichische Delegation leitete Abteilungsleiter Kurt Waldheim, die italienische der Generalsekretär des Außenministeriums in Rom, Umberto Grazzi. Die künftige Entwicklung der 1919 von Italien annektierten Provinz war Chefsache.
„Die Serie der Anschläge zeigt, dass es sich um eine organisierte Attentatswelle handelt“, berichtete WELT: „Die Attentäter, von denen wir nicht wissen, welcher Seite, Gruppe oder Richtung sie zugehören, können zur – ohnehin fragwürdigen – Begründung ihres Vorgehens nicht mehr anführen, sie hätten keinen anderen Weg mehr gesehen, die Aufmerksamkeit der Welt auf die gespannte Lage in Südtirol zu lenken.“
Zumal Italien am Samstag überraschend Viktoria Stadlmayer aus der Haft entlassen hatte. Die Regierungsrätin der Tiroler Landesregierung in Innsbruck, dort als geborene Brixenerin zuständig für alle Fragen Südtirols, hatte 42 Tage lang hinter Gittern gesessen. Sie war Ende April am Brenner aus dem Zug nach Rom heraus verhaftet worden, als sie nach Italien einreisen wollte. Die italienische Staatsanwaltschaft warf ihr „agitatorische Tätigkeit“ vor.
Die Verhaftung hatte die österreichisch-italienischen Beziehungen so sehr belastet, dass zeitweise mit einer Absage von Verhandlungen gerechnet worden war. Stadlmayer gehörte offiziell der österreichischen Delegation an. Obwohl ihre Freilassung am Sonntag in ganz Österreich und auch in Südtirol lebhaft begrüßt worden war, detonierten am Abend Sprengladungen an den Strommasten.
Das hatte die erwartbaren Folgen: Am 13. Juni gab die italienische Regierung bekannt, „alles zu tun, um die Ruhe und Sicherheit in Südtirol aufrechtzuerhalten“. Innenminister Mario Scelba erklärte, dass „Souveränität und Sicherheit des Staates sowie Lebensrecht und Freiheit der italienischen Minderheit in der Provinz Bozen bedroht“ seien. Die Regierung, erklärte er, „hat deshalb das Recht und die Pflicht, alle Maßnahmen zu treffen, die sie zur Sicherung der Ordnung für notwendig hält, ohne dass dies als gegen eine bestimmte Gruppe gerichtet interpretiert werden kann“. In der Nacht zuvor waren fünf weitere Strommasten gesprengt worden.
Parlamentarier aus Südtirol, sowohl Vertreter der dortigen deutschsprachigen Mehrheit wie der italienischsprachigen Minderheit, baten den Innenminister einvernehmlich, „keine Polizeimaßnahmen zu ergreifen, die die deutschsprachige Bevölkerung benachteiligen und damit den Attentätern in die Hände arbeiten“ könnten. Die Extremisten spekulierten gerade auf Vergeltungsmaßnahmen: „Die hoffen auf die Reaktion der deutschsprachigen Bürger mit der Absicht, das Feuer dann noch weiter zu schüren.“
Die italienische Presse reagierte auf die Attentatswelle mit betonter Mäßigung. Niemand forderte die Absage der für den 24. Juni geplanten österreichisch-italienischen Außenministerkonferenz in Zürich, und die Verhandlungen von Experten beider Länder hatten zeitgleich mit Scelbas Auftritt termingerecht in Zürich begonnen.
Darauf reagierten die Täter am Abend des 13. Juni mit weiteren Anschlägen. In Bozen wurde der Wagen eines Italieners in die Luft gesprengt, im Umkreis von 100 Metern zersplitterten die Fensterscheiben. Hier und auch in Innsbruck wurden Flugblätter verteilt, in denen die Südtiroler zur „Selbstverteidigung“ und die Österreicher zur „Unterstützung ihrer Brüder“ aufgerufen wurden.
Der vorläufige Gesamtschaden der Attentatswelle betrug schon am 14. Juni mehr als 20 Millionen DM. Die Stromversorgung der gesamten Provinz war nach den Sabotageaktionen kritisch geworden; allein in Bozen mussten etwa 1000 Arbeiter freinehmen. Die aufwendige Elektrifizierung der Südalpen zählte seit den 1920er-Jahren zu den zentralen Entwicklungsprojekten der Regierung in Rom für die Provinz, mit der die Ablehnung der Annexion abgebaut werden sollte.
Seit den 1860er-Jahren hatte die Grenze am Brenner zu den zentralen Forderungen italienischer Nationalisten gehört. Als das damalige Königreich 1915 aufseiten der Entente-Mächte in den Ersten Weltkrieg gegen Österreich-Ungarn (und Deutschland) eintrat, waren Rom alle habsburgischen Gebiete südlich der vermeintlich „natürlichen“ Brennergrenze zugesichert. Dabei ging es jedoch um zwei sehr unterschiedliche Regionen: Südtirol, das zu etwa 90 Prozent von kulturell deutsch(-österreichisch) geprägten Menschen bewohnt war, und Trentino, das zu zwei Dritteln von Italienisch sprechenden Bürger bewohnt war.
Statt nun nach dem Sieg 1918 die Doppelprovinz zu trennen und den nördlichen Teil bei Tirol zu belassen, den südlichen dagegen Venetien zuzuschlagen, bestand Italien auf der Zusage von 1915. Immerhin hatte König Vittorio Emanuele III. zugesagt, der neuen Provinz stünde eine „sorgfältige Wahrung der lokalen Institutionen und der Selbstverwaltung“ zu. Und tatsächlich konnten am 15. Mai 1921 die Südtiroler zum ersten Mal an einer Wahl zum nationalen Parlament in Rom teilnehmen. Die gemeinsame Liste aus Tiroler Volkspartei und Deutschfreiheitlicher Partei erreichte fast 90 Prozent der Stimmen.
Die Machtübernahme des Faschisten Benito Mussolini 1922 beendete die Hoffnung auf Einvernehmen; an ihre Stelle trat eine harte Italienisierungspolitik: Alle deutschen Ortsnamen verschwanden, Italienisch wurde alleinige Amtssprache, Deutschunterricht und deutschsprachige Zeitungen nahezu vollständig verboten. Mit großzügiger Unterstützung lockte die faschistische Regierung Süditaliener in die Alpen. Südtiroler, die sich dagegen wehrten, wurden massiv unterdrückt.
Auch in der Zeit des engen Bündnisses zwischen Hitler-Deutschland und dem faschistischen Italien 1935 bis 1943 änderte sich daran nichts, denn Hitler hatte schon 1922 jeder Unterstützung für Südtirol eine Absage erteilt. Stattdessen sollte es um Umsiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung in annektierte gebiete der Sowjetunion gehen – keine sehr attraktive Alternative.
Nach 1945 regierten sowohl in Wien wie in Rom demokratische Kabinette. Schon 1946 einigten sich beide Seiten auf die Wahrung kultureller Rechte der deutschsprachigen Bevölkerung, 1948 folgte ein erstes, noch nicht ausreichendes Autonomieabkommen. Gegen diese gewiss langfristige, aber doch pragmatische Entwicklung bildete sich um 1956 eine terroristisch-nationalistische Bewegung, der Befreiungsausschuss Südtirol (BAS).
Diese Gruppe war es auch, die in der Herz-Jesu-Nacht 1961 Strommasten angriff. Die fast 60 binnen 48 Stunden verübten Anschläge machten jedoch nur ein Fünftel bis Sechstel aller BAS-Anschläge aus; offiziell schreibt die italienische Justiz 361 Attentate zwischen 1956 und 1988 dieser Gruppe zu. Je nach Zählweise gab es dabei 15 bis 21 Todesopfer sowie 55 bis 59 Verletzte.
Bei der Strafverfolgung wurde teilweise zu überharten Mitteln gegriffen, es kam dabei auch zu Folterungen. Jedenfalls verloren zwei BAS-Terroristen in italienischer Haft ihr Leben, ein 28-Jähriger und ein 42-Jähriger; die Todesfälle wurden nicht seriös aufgeklärt.
Insgesamt 157 Personen verurteilten italienische Gerichte: 103 deutschsprachige Italiener, 40 Österreicher und 14 Westdeutsche. Fast alle hatten ihre Wurzeln in Südtirol. Der BAS-Gründer Sepp Kerschbaumer wurde zu fast 16 Jahren Haft verurteilt, starb aber schon Ende 1964 eines natürlichen Todes. Andere Terroristen wurden in Abwesenheit zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, lebten aber unbehelligt in Österreich oder der Bundesrepublik. Wiederholt gab es deshalb zwischen den EWG-Gründungsstaaten Deutschland und Italien diplomatische Verstimmungen.
Nach mehreren weiteren Autonomieabkommen funktioniert seit 1992 das Zusammenleben der deutsch- und der italienischsprachigen Bevölkerung weitgehend reibungslos. Sie gilt im Zuge der europäischen Integration sogar als beispielhaft. Die Attentate der Herz-Jesu-Nacht 1961 konnten das nicht verhindern.
Dieser Artikel erschien erstmals im Juni 2021.