An Deutlichkeit ließen es die Verantwortlichen nicht mangeln: „Die wasserlose (Wüste) Omaheke sollte vollenden, was die deutschen Waffen begonnen hatten: die Vernichtung des Hererovolkes.“ So nüchtern steht es im Bericht des Großen Generalstabs in Berlin über „Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika. Der Feldzug gegen die Hereros“, erschienen 1906.
Es war der erste bewusst ins Werk gesetzte Genozid des 20. Jahrhunderts. Im Spätsommer und Herbst 1904, auf der Südhalbkugel also im beginnenden Frühling, hatten gut ausgerüstete und versorgte Kolonialtruppen flüchtende Männer, Frauen und Kinder, Gesunde und Kranke in die Wüste Omaheke im Nordosten Deutsch-Südwestafrikas gehetzt. Immer weiter mussten Zehntausende im heutigen Namibia dem Druck der Verfolger weichen – doch alle Wasserstellen waren bereits von bewaffneten Reitern besetzt. Eine Postenkette sperrte zudem Auswege aus der Sandödnis nach Süden und Norden ab. Die einzige Rettung lag mehr als 200 Kilometer weiter östlich: die Grenze zur britischen Kolonie Betschuanaland (heute Botsuana).
In ihrer Verzweiflung schnitten die Verdurstenden ihren mitgetriebenen, abgemagerten Rindern die Kehlen auf, um deren Blut zu trinken, oder pressten das letzte bisschen Flüssigkeit aus deren Kadavern. Andere begannen, mit bloßen Händen Löcher in den Wüstenboden zu graben. Doch Wasser fanden sie so gut wie nie.
Im Bericht des Generalstabs las sich das so: „Die Verfolgung der Hereros, insbesondere der Vorstoß der Abteilungen Deimling und Klein in das Sandfeld, war ein Wagnis gewesen, das von der Kühnheit der deutschen Führung, ihrer Tatkraft und verantwortungsfreudigen Selbsttätigkeit ein beredtes Zeugnis ablegte und dessen Gelingen nur durch gründlichste, bis ins Kleinste vorher durchdachte Vorbereitung und eine ebenso kraftvolle Durchführung ermöglicht wurde.“
Ende Mai 2021 hat die Bundesrepublik Deutschland durch ihren Außenminister Heiko Maas offiziell nach langwierigen Verhandlungen mit der namibischen Regierung dieses Vorgehen gegen die Herero als Völkermord anerkannt. Überraschend kommt das nicht, denn schon seit 2015 benannte das Auswärtige Amt die Ereignisse mit diesem Begriff. Was die politischen Folgen sein werden und ob sich Aktivisten im Namen der damals grausam umgekommenen Herero mit Reparationsforderungen durchsetzen werden, bleibt abzuwarten.
Wie war es zu dieser Eskalation gekommen? Warum bekam der General Lothar von Trohta, der sich bereits bei Kolonialkämpfen in Deutsch-Ostafrika (dem heutigen Tansania, Burundi und Ruanda) sowie während des Boxeraufstands in China (1900) den Ruf eines erbarmungslosen Offiziers erworben hatte, die Gelegenheit, in Deutsch-Südwest seine Vorstellung eines „Rassenkrieges“ zu verwirklichen? An seinen Vorgänger als Chef der dortigen Kolonialtruppen, Oberst Theodor Leutwein, schrieb Trotha am 4. November 1904, die Einheimischen würden „nur der Gewalt weichen“; er sei gewillt, „mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit“ dafür zu sorgen. Eine klare Ansage.
Seit 1884 beanspruchte das Deutsche Reich das Areal zwischen den britischen Kolonien im Süden des Kontinents und Portugiesisch-Westafrika, dem heutigen Angola. Als „Schutzgebiet“, das um die Hälfte größer war als der Nationalstaat in den Grenzen von 1871, bewohnten Zugezogene aus Deutschland nur einige wenige Siedlungen vor allem an der Küste.
Das ökonomische Kalkül, mit eigenen Kolonien einerseits zu einer autarken Rohstoffversorgung zu kommen, andererseits Absatzmärkte für die eigenen Industrieprodukte zu gewinnen, blieb stets Theorie. Deutsch-Südwestafrika war immer ein Zuschussgeschäft, wie die meisten Kolonien anderer europäischer Mächte auch.
Dennoch strebte Gouverneur Leutwein, seit 1895 im Amt, eine weitere Durchdringung des dünn besiedelten Areals an. Dazu sollten deutsche Siedler immer größere Teile des Landes nutzen; für die dort lebenden Herero, eine Fülle von Stämmen, keine geschlossene Ethnie, war die Herabstufung zu faktischen Leibeigenen vorgesehen. Hinzu kamen die Folgen einer schweren Rinderpest und von Heuschreckenplagen, die immer mehr Herero an den Rand des Existenzminimums stürzten.
In dieser ohnehin angespannten Situation verschärfte Rassismus, ein in allen europäischen Gesellschaften seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts stark zunehmendes Gefühl absoluter, vermeintlich biologisch begründeter Überlegenheit, den absehbaren Konflikt. Die Übergriffe von Siedlern gegen zunehmend wie Sklaven behandelte Herero häuften sich.
Im Herbst 1903 kam es erstmals zu größerer, auch gewaltsamer Gegenwehr. Sie wurde aber bald niedergeschlagen. Daraufhin einigte sich Samuel Maharero, der seit 1890 mit deutscher Unterstützung die größte Bevölkerungsgruppe im Schutzgebiet, die Ovaherero, anführte, mit anderen Stammesführern auf einen gemeinsamen Aufstand gegen die Kolonialherren.
Maharero erteilte den Befehl, ausschließlich gegen deutsche Männer zu kämpfen, aber Europäer aller anderen Nationen, die ebenfalls als Siedler in Südwestafrika wohnten, zu verschonen, ferner Missionare und natürlich Frauen und Kinder. Im Wesentlichen wurde dieser Befehl auch eingehalten, während Telegrafenverbindungen, Eisenbahnstrecken, Handelstationen und andere Bauten der Kolonialmacht zerstört und Farmen überfallen wurden.
Die deutsche Kolonialtruppe, anfangs etwa 2000 Mann, konnte diesen Aufstand gegen ihren vermeintlichen „Schutz“ nicht hinnehmen. Nachdem sich gezeigt hatte, dass es sich tatsächlich um einen nahezu landesweiten Aufstand handelte, brachte das Deutsche Reich Verstärkung nach Südwestafrika, und im Mai 1904 wurde Lothar von Trotha zum militärischen Befehlshaber ernannt.
Die folgenden Kämpfe entwickelten sich völlig einseitig: Wo immer deutsche Truppen auf zahlenmäßig oft überlegene Herero stießen, unterlagen die Einheimischen. Der Generalstab stütze Trothas Vorgehen: „Dass er die ganze Nation vernichten oder aus dem Land treiben will, darin kann man ihm beistimmen“, schrieb Generalstabschef Alfred von Schlieffen an Reichskanzler Bernhard von Bülow: „Der entbrannte Rassenkampf ist nur durch die Vernichtung oder vollständige Knechtung der einen Partei abzuschließen.“
Im August 1904 schlug Trotha die aufständischen Herero in der Schlacht am Waterberg, in der die oft nur primitiv bewaffneten Einheimischen gegen die mit Maschinengewehren, leichter Artillerie und Pferden ausgerüsteten Soldaten keine Chance hatten. Im Anschluss wurden die Überlebenden und ihre Angehörigen in die Wüste getrieben, deren Wasserstellen der General bereits hatte besetzen lassen.
Im Tätigkeitsbericht des Generalstabs hieß es rückblickend: „Hauptmann Klein nahm sofort die Verfolgung des entflohenen Feindes auf bis zu einer etwa sieben Kilometer ostwärts gelegenen Wasserstelle, die von den Eingeborenen Oz-Ombu genannt wurde. Hier wurden einige Weiber aufgegriffen, die dem Tetjo-Stamm angehörten und aussagten, Tetjo selbst und der größte Teil seines Stammes seien bereits verdurstet. An und bei den Wasserlöchern lagen viele Hundert Stück toten Viehs, und es war nicht möglich, den Pferden und Eseln der Abteilung genügend Wasser zu geben.“ Ähnliche Schilderungen gibt es auf den rund 200 Seiten des detaillierten Reports zu Dutzenden.
Trotha hatte einen „Schießbefehl“ erlassen, der faktisch jeden Herero der Willkür auslieferte: „Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber oder Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen.“ Da „zurücktreiben“ meinte: zurück in die Wüste, war das ein Ausrottungsbefehl.
Diese Anweisung ging sogar dem Großen Generalstab in Berlin und Kaiser Wilhelm II. zu weit; er wurde nach wenigen Wochen wieder aufgehoben. Allerdings zu spät, denn in dieser Zeit waren wohl mehrere Zehntausend Herero umgekommen, zumeist verdurstet. Überlebende und Angehörige anderer aufständischer einheimischer Stämme wie der Nama wurden teilweise jahrelang in Lager gesperrt, in denen weitere Tausende Menschen zugrunde gingen.
Erst 1908 hatte sich die Lage in Deutsch-Südwest wieder beruhigt – es war allerdings eine Friedhofsruhe. Wie viele Opfer es insgesamt gab, kann man nur vage schätzen – es dürften wohl insgesamt zwischen 50.000 und 100.000 Menschen zugrunde gegangen sein, was bis zu vier Fünftel der 1903 lebenden Herero und Nama entsprach.
Nach der natürlich 1904 noch nicht formulierten UN-Konvention handelte es sich fraglos um einen Genozid: Trotha wollte eine ganze Volksgruppe ausrotten, indem er sie unterschiedslos töten ließ, oder sie vorsätzlich Lebensbedingungen aussetzen, die binnen Kurzem zu ihrem Tode führen mussten. Insofern ist die in der Geschichtswissenschaft weitestgehend anerkannte Charakterisierung als Völkermord zutreffend, zu der sich jetzt auch die Bundesregierung bekennt.
Nun bleibt die Frage, was daraus politisch folgt. Sicher ist: Reparationen wären kontraproduktiv, wie sie es immer waren – sowohl nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1871 wie nach dem Ersten Weltkrieg. Denn Reparationen dienen niemals nur dem Schadenersatz, sondern haben immer einen zusätzlich demütigenden Charakter, der die Zukunft belastet.
Nicht ohne Grund hat die Bundesrepublik nach 1945 darauf bestanden, wo möglich individuelle Schäden durch deutsche Besetzung und Verbrechen im Zweiten Weltkrieg mit Geld zu lindern (ungeschehen kann man sie nicht machen), aber eben keine Reparationen zu zahlen. Vergangenheit kann nur aufgearbeitet werden, idealerweise gemeinsam und einvernehmlich, um in eine bessere Zukunft zu kommen. Zahlungen in diesem Sinne sind begrüßenswert, im Gegensatz zu Reparationen.
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