Die Katastrophe war absehbar gewesen. Am 16. Juli 1930 hatte der Reichstag mit den Stimmen sowohl der Republikfeinde KPD, DNVP und NSDAP wie der eigentlich staatstragenden Sozialdemokratie den von Reichskanzler Heinrich Brüning vorgelegten Haushaltsentwurf für das laufende Jahr abgelehnt. Danach musste das Parlament zwingend aufgelöst werden; die fälligen Neuwahlen terminierte man auf den spätestmöglichen Termin, den 14. September. Angesichts der seit Monaten grassierenden Wirtschaftskrise mit ständig steigenden Arbeitslosenzahlen und sinkenden Reallöhnen war dies verhängnisvoll. Denn eigentlich hätte der 1928 gewählte Reichstag noch bis ins Frühjahr 1932 amtieren können.
Seit der Auflösung des Parlaments verkündete die NSDAP, sie werde „einen großen Sieg erringen“. Adolf Hitler, „Führer“ einer im Reichstag bisher mit gerade zwölf Mandaten vertretenen Splitterpartei namens NSDAP, stilisierte die anstehende Abstimmung zur Entscheidungsschlacht: „Wenn wir in wenigen Wochen zur Wahl schreiten und wenn wir durch diese nicht aus diesem System herauskommen, was soll dann in Wirklichkeit in Deutschland gebessert werden können?“
Wiederholt sprach er vom „Wendetag der deutschen Geschichte“ und drohte: „Am 14. September 1930 wird entweder das System der jahrzehntelangen Belügung unseres Volkes gerichtet und damit gestürzt, oder Deutschland geht den Weg ins Verderben bis zur letzten Konsequenz.“
Angesichts der Nichtexistenz von Umfragen stocherte Hitler im Nebel. Also relativierte er seine Euphorie manchmal auch: „Ob wir siegen, wir wissen es nicht; ob wir groß siegen, wir wissen es nicht; ob wir 50 Mandate bekommen, wir wissen es nicht; ob wir 100 bekommen, wir wissen es nicht“, sagte er etwa in Köln Mitte August 1930. Ein anderes Mal ging er von einer noch größeren möglichen Spanne aus: „Ob wir 50 Mandate bekommen oder 70, ja ob wir 300 bekommen würden, das hätte nichts zu sagen.“
Anders Berlins NSDAP-Chef: „Der Wahlerfolg ist uns doch sicher!“, notierte Joseph Goebbels am 7. September 1930 in seine Tagebuchkladde. Fünf Tage später wurde er konkret: „Ich schätze in Berlin etwa 250.000 Stimmen.“ Das würde, bei erwartbaren 1,25 Millionen Wählern, einem Anteil von 20 Prozent entsprechen.
Bei bis zu fünf Reden am Tag verausgabte sich der NSDAP-„Gauleiter“ der Reichshauptstadt; in der Nacht zum Wahlsonntag schrieb er: „Ich bin ganz herunter, hochgradig nervös, abgekämpft, blass und bleich.“ Und er blieb dabei: „Ich erwarte einen ganz großen Sieg.“
Bei den Berliner Mitgliedern kam diese Botschaft an. Der frühere Frontsoldat Ernst Woldt beschrieb die Stimmung seiner Parteizelle: „Dass dieser Wahlgang ein Riesenerfolg für uns werden musste, war allen klar. Unermüdlich war die SA auf den Beinen, Propagandamärsche, Plakatekleben, Handzettelverteilen – all das musste von wenigen bewältigt werden. Kein Abend verging ohne Marsch, Rad- oder Autofahrt.“ Gern zahlten die Mitglieder sogar die Miete für Lastwagen und das Benzingeld aus der eigenen Tasche.
Doch längst nicht alle Nationalsozialisten waren so optimistisch wie Goebbels und seine Berliner Anhänger. Vermutlich aus Münchner Parteikreisen sickerte die Erwartung durch, die NSDAP könne im künftigen Reichstag bis zu 70 Mandate gewinnen, was etwa vier Millionen Stimmen entspräche. Auch ein solches Ergebnis wäre ein großer Erfolg, denn gegenüber der Wahl vom Mai 1928 würde die NSDAP die Zahl ihrer Unterstützer damit mehr als verfünffachen.
Die bürgerlich-liberale „Vossische Zeitung“ nahm diese Möglichkeit und ähnlich euphorische Erwartungen der KPD zum Anlass, auf der Titelseite ihrer Ausgabe am Wahlsonntag einen Aufruf zu veröffentlichen: „Wählt republikanisch!“, hieß es dort in ungewohnt großer Schrifttype. Und weiter: „Wählt Fortschritt, nicht Umsturz! Wählt Vernunft, nicht Fanatismus! Wählt Führer, nicht Verführer!“
Als am Wahlsonntagabend die ersten Ergebnisse bekannt wurden, zeigte sich: Der Aufruf hatte nicht gefruchtet. Die NSDAP hatte noch mehr gewonnen als erwartet und ihren Stimmenanteil von 1928 (bescheidene 2,6 Prozent im Reichsdurchschnitt) auf nun 18,3 Prozent fast verachtfacht; als einzige andere relevante Partei hatte gegenüber 1928 die KPD leicht zugelegt.
Alle anderen Parteien verloren: Die SPD sank um ein Sechstel auf 24,5 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die bürgerlichen Parteien büßten gegenüber dem Ergebnis von 1928 um ein Neuntel bis zwei Fünftel ein. Allein das katholische Zentrum erwies sich als stabil; 0,3 Prozentpunkte Rückgang lagen deutlich innerhalb der erwartbaren Schwankungsbreite.
Am stärksten verlor die unter ihrem Vorsitzenden Alfred Hugenberg auf hart antirepublikanischen Kurs geschwenkte DNVP: von 14,3 auf nur mehr sieben Prozent. Also mehr als die Hälfte ihrer Stimmen. Der Grund war einfach: Warum sollte man die deutschnationale Kopie wählen, wenn ebenso das nationalsozialistische Original antrat?
„Ein schwarzer Tag für Deutschland“, notierte der Schriftsteller Harry Graf Kessler in sein Tagebuch: „Die Nazis haben ihre Mandatszahl fast verzehnfacht, sind von zwölf auf 107 Mandate gekommen und so die zweitstärkste Partei des Reichstages geworden.“
Der international hervorragend vernetzte Adlige ahnte: „Der Eindruck im Ausland muss katastrophal sein, die Rückwirkung außenpolitisch und ökonomisch verheerend.“ Völlig zutreffend analysierte er: „Wir stehen damit, bei 107 Nazis, 41 Hugenbergern und über 70 Kommunisten, also etwa 220 Abgeordneten, die den heutigen deutschen Staat radikal verneinen und revolutionär beseitigen wollen, vor einer Staatskrise.“ Am Ende schafften es sogar 77 KPD-Vertreter in das ihnen genau wie der NSDAP verhasste Parlament.
Noch in der Nacht auf Montag gab Hitler bekannt: „Heute ist zum ersten Mal für zahllose Menschen, die viele Jahre mit größtem Fleiß und mit dem Einsatz ihres Lebens gearbeitet haben, ein Tag des Lohnes.“ Die NSDAP werde „auf ganz gesetzmäßigem Wege“ weiterarbeiten – als ob sie das zuvor getan hätte! Dazu passte Hitlers entlarvende Erklärung: „Das Ziel kann uns ja die Verfassung nicht vorschreiben, sondern nur den Weg.“
Dem fügten sich seine Anhänger: „Der Führer wollte legal zur Macht kommen. Wir kämpften also auch mit legalen Mitteln“, erinnerte sich der ostpreußische Nazi Heinz Gefaeller. Das war natürlich nur ein Lippenbekenntnis: „Legal bis zur letzten Galgensprosse, gehenkt wird trotzdem!“, lautete ein Spruch von Goebbels, der Berliner Parteigenossen besonders gefiel.
Hitler warnte jedoch vor „Zersetzungsversuchen“ der Gegner; es gelte nun, „geschlossen wie ein Mann hinter der Führung zu stehen“. Und er versprach: „Die Stunde wird kommen, wo wir endgültig die Macht haben werden. Am Ende unseres Weges werden die Worte stehen: Ihr seid Deutschland!“
Der Erfolg fiel nicht überall gleich groß aus. Spektakulär war das Ergebnis in Ostpreußen; gegenüber der Wahl 1928 hatte die NSDAP hier ihren Stimmenanteil fast verdreißigfacht – ein persönlicher Sieg des so kompromisslosen wie aktivistischen Gauleiters Erich Koch. Dagegen enttäuschte der Zuwachs im prozentual stärksten Wahlkreis Schleswig-Holstein mit einer knappen Versiebenfachung von vier auf 27 Prozent fast schon.
Im Ruhrgebiet lag der Stimmenanteil zwar um den Faktor zehn bis zwölf über dem Ergebnis von 1928. Doch in absoluten Anteilen konnten die Gaue Westfalen-Nord und Westfalen-Süd mit gut zwölf und knapp 14 Prozent nicht zufrieden sein. Hier hatte die KPD der NSDAP potenzielle Wähler weggenommen.
Ihr schlechtestes Ergebnis im gesamten Reich erzielte die Hitler-Partei in Württemberg: 9,4 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen entfielen auf die Hitler-Bewegung. Offenbar hatte ein heftiger und vor allem öffentlich ausgetragener Streit in der Stuttgarter NSDAP kurz vor dem Wahltermin potenzielle Unterstützer abgeschreckt.
Insgesamt blieb dennoch ein ausgesprochen bedenkliches Ergebnis: Von 35,8 Millionen Wählern in Deutschland hatten gut 13 Millionen für NSDAP, KPD oder DNVP gestimmt. Harry Graf Kessler rechnete sich vor, dass „über ein Drittel, nämlich etwa 35 Prozent der aktiv sich an den politischen Entscheidungen beteiligenden Deutschen republik- und staatsfeindlich sind“.
Tatsächlich gab es im Reichstag nunmehr keine Möglichkeit mehr, eine konstruktive Mehrheit zu bilden. Die SPD verweigerte sich der rechnerisch möglichen Koalition mit Zentrum und mindestens drei bürgerlichen Kleinparteien. Der unabhängig vom Wahlausgang weiter amtierende Reichskanzler Heinrich Brüning musste fortan mit Notverordnungen regieren. Die parlamentarische Demokratie in Deutschland war am 14. September 1930 gestorben, auch wenn es bis zur Machtübernahme Hitlers noch zweieinhalb Jahre dauern sollte.
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