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Geschichte Goldene Zwanziger

„Früher hatten wir eine Armee, jetzt haben wir prima Perversitäten“

Am Ende des Ersten Weltkrieges boten die riesigen Kokainlager der kaiserlichen Armee die Chance, Niederlage und Not zu betäuben. Nicht nur die Bohème der Goldenen Zwanziger schnupfte sich am „Mehl“ ins Delirium.
Textchef ICON / Welt am Sonntag
Die Tänzerin Anita Berber (undatierte Aufnahme) wurde am 10. Juni 1899 in Dresden geboren und ist 1928 im Alter von 28 Jahren durch Kokainmißbrauch gestorben. | Die Tänzerin Anita Berber (undatierte Aufnahme) wurde am 10. Juni 1899 in Dresden geboren und ist 1928 im Alter von 28 Jahren durch Kokainmißbrauch gestorben. |
Die Tänzerin Anita Berber starb 1928 mit 28 Jahren an Kokainmissbrauch
Quelle: picture-alliance / dpa

Die Nasenflügel des Wesens auf der Treppe des Berliner „Adlon“-Hotels waren fast so rot wie der grell geschminkte Mund. Doch das konnte niemand sehen, eine dicke Puderschicht verlieh der Frau wie jeden Tag einen leichenblassen Teint. Sie war auf dem Weg zum Frühstück, das, wie man sich in der Gesellschaft zuraunte, aus in Äther und Chloroform getauchten Rosenblättern bestand.

Nicht nur in der Reichshauptstadt raunte man so Einiges über Anita Berber, jene Tänzerin, die in Cabarets wie der „Weißen Maus“ beinahe nackt auftrat und ihren Darbietungen Namen wie „Morphium“ gab. Was auch immer dran war an den Gerüchten, sie pöbele dabei und uriniere notfalls Gästen aus der Unterwelt auf den Tisch – niemand bezweifelte, dass sie sich alles an Rauschgift in Nase und Venen jagte, was sie kriegen konnte.

Anita Berber, Rollenbild um 1920 Berber, Anita Taenzerin - Rollenbild. - Foto, um 1920 (Becker & Maass, Berlin). Mit eigenhaendigem Autogramm. |
Niemand bezweifelte, dass sie sich alles an Rauschgift in Nase und Venen jagte, was sie kriegen konnte: Anita Berber (1899-1928)
Quelle: picture-alliance / akg-images

Bis heute berauscht sich Berlin an seinem Nachtleben zur Zeit der Weimarer Republik. Das Tempo in den Clubs und Bars ist ein Mythos, über den die Stadt nicht hinwegkommt. Zu dieser Legende gehört, dass Kokain in großem Stil im Umlauf gewesen sei: „Man bekam es in jedem zweiten Nachtlokal bei der Toilettenfrau“, notierte beispielsweise der Schriftsteller Curt Riess über diese Zeit. Seinem Kollegen Klaus Mann war Anita Berbers Drogenkonsum bis zum totalen Exzess nicht entgangen. Er schrieb etwas allgemeiner: „Früher mal hatten wir eine Armee, jetzt haben wir prima Perversitäten! Laster noch und noch! Kolossale Auswahl! Das muss man gesehen haben!“

Forschungen wie Annika Hoffmanns „Drogenrepublik Weimar?“ haben das Bild der Reichshauptstadt auf Koks inzwischen korrigiert. Ein flächendeckender Konsum in der Bevölkerung lässt sich nicht nachweisen, die Berliner Charité verzeichnete in den 20er-Jahren nur 85 Behandlungen wegen Kokainismus.

Kokastrauch, Cocastrauch, Kokapflanze, Cocapflanze (Erythroxylon coca, Erythroxylum coca), Zweig mit Blueten | cocaine, Bolivian coca (Erythroxylon coca, Erythroxylum coca), twig with blossoms | Verwendung weltweit
Berauschende Wirkung: blühender Cocastrauch
Quelle: picture alliance / blickwinkel/R

Allerdings haben die vielen Zeugnisse von schniefenden und spritzenden Literaten, Künstlern und Society-Größen dafür gesorgt, dass dem Stoff noch immer das Image von Noblesse, Kreativität und einem Hauch Verruchtheit anhängt. Dazu entbrannte in den 20er-Jahren eine Debatte unter Ärzten und Suchtforschern, wie das Rauschgift und seine Konsumenten einzuschätzen seien. Viele der Beschreibungen erinnern an Aussagen, die man auch in der aktuellen Diskussion noch findet.

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1750 waren die ersten Kokasträucher aus Südamerika nach Deutschland gekommen, im frühen 19. Jahrhundert wurde die Wirkung der Blätter bemerkt: Wer sie kaute, berichtete von Euphorie und davon, dass er weniger Hunger und Durst spürte. 1862 begann der Arzneimittelhersteller Merck mit der kommerziellen Kokainproduktion. Zunächst wurde es dafür eingesetzt, Morphiumabhängigen zu helfen, von ihrer Sucht loszukommen. Im Ersten Weltkrieg war die Droge dann sehr weit verbreitet. Sie stachelte Soldaten vor der Schlacht an und ließ sie die Entbehrungen in den Schützengräben vergessen.

2-G55-W1-1918-59 (395179) Dt. Verbandplatz beim Kemmel 1918 /Foto Geschichte / 1. Weltkrieg 1914-18 / Westfront. - 'Von den letzten Kämpfen am Kemmel. Ein Verbandplatz dicht hinter der Front' (Kämpfe am Kemmel, Flandern, April 1918, währen der deutschen Groß- offensive März-Juli 1918). - Pressefoto, undat., (Paul Hoffmann & Co., Berlin-Schöneberg). Berlin, Slg.Archiv f.Kunst & Geschichte. E: WWI, Western front, German field ambulance station / photo History / World War I, 1914-18 / Western front. - 'Von den letzten Kämpfen am Kemmel. Ein Verbandplatz dicht hinter der Front' ('From the recent battle of Kemmel. A field dressing station immediately behind the frontline.' (The battle of Kemmel, Flanders, April 1918, during the German Spring Offensive March-July 1918). - Press photo, undated, (Paul Hoffmann & Co., Berlin- Schöneberg). Coll. Archiv f.Kunst & Geschichte. |
Pulver gegen die Angst: deutsches Sanitätslager 1918
Quelle: picture alliance / akg-images

Zum Kriegsende 1918 waren die Sanitätsdepots der kaiserlichen Armee randvoll mit dem Aufputscher, Alkohol dagegen war knapp. Das Kokain, das als Medizin weiter in Apotheken auf Rezept erhältlich war, konnte die Nachfrage in einem Land unmöglich decken, das den Schmerz einer Kriegsniederlage mit mehr als zwei Millionen Toten und Hunderttausenden Versehrten betäuben musste; schnell errichteten ehemalige Militärärzte und Soldaten einen Schwarzmarkt. Von dort drang das Pulver vor allem in die Bars, Cabarets und Clubs zwischen Berliner Friedrichstadt und Kurfürstendamm vor.

In diesem Milieu voller Künstler und Großbürger stieg auch Anita Berber auf. Sie tanzte im „Wintergarten“, in der „Rakete“, im „Toppkeller“. Bereits vor dem Auftritt hatte sie eine Flasche Cognac intus, dazu Kokain und Morphium im Blut. Vielleicht ließ sie das die Gaffer besser ertragen, die doch nur gekommen waren, weil sie einen Blick auf nacktes Fleisch erhaschen wollten. Beleidigte sie ein Gast mit Zwischenrufen, konnte sie Obszöneres antworten.

Das brachte den deutsch-britischen Literaten Paul Marcus zu den Zeilen: „Durch und durch dämonische Frau. Lasterverheißender Mund, böse Augen, verdorben bis in die Haare hinein. So gleitet sie dahin.“ Der Betreiber der „Weißen Maus“ setzte Anita Berber 1923 vor die Tür, weil sie im Rausch einem Gast eine Sektflasche über den Schädel gezogen hatte. Doch noch war sie nicht völlig am Ende: Sie wirkte weiter in Filmen mit, 1925 stand sie dem Maler Otto Dix im knallroten Kleid Modell.

Das Gemälde "Bildnis der Tänzerin Anita Berber" (1925) von Otto Dix am Donnerstag (02.03.2006) im Kunstmuseum Stuttgart. Das Kunstmuseum Stuttgart feiert am 05. März 2006 sein einjähriges Bestehen. Rechtzeitig zu diesem Jubiläum erwirbt die Landesbank Baden-Württemberg für 10 Millionen Euro das Kunstwerk von der Otto Dix Stiftung in Vaduz (Lichtenstein). Die Landesbank Baden-Württemberg wird das "Bildnis der Tänzerin Anita Berber" im Kunstmuseum Stuttgart der Öffentlichkeit präsentieren. Foto: Harry Melchert dpa/lsw (Achtung: Veröffentlichung des Fotos nur in Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Erwerbung des Bildes gestattet) +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit
"Bildnis der Tänzerin Anita Berber" (1925) von Otto Dix
Quelle: picture-alliance/ dpa/dpaweb
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Die starke öffentliche Präsenz von Figuren wie Anita Berber und immer mehr Berichte über illegales Kokain veranlassten bald auch Wissenschaftler dazu, sich mit dem Rauschgift zu befassen. Die Narkotikaforscher Ernst Joël und Fritz Fränkel beispielsweise beschrieben 1924 in ihrem Buch „Der Cocainismus“ einen idealtypischen Konsumenten. Im Allgemeinen sei der Kokainist eine gesellige Persönlichkeit: „Er nimmt seine Pulver im Kreise gleichgesinnter Kameraden, in dem Lokal, in dem er den übrigen Gästen, wie vor allem den Händlern, wohlbekannt ist.“

Nach Joëls und Fränkels Worten bezeichneten die Süchtigen Kokain als „Koks“, die Depression, die nur allzu oft auf den Rausch folgte, hieß nur „Die Reaktion“. Es schloss sich eine Bestandsaufnahme der Qualitäten, Bezugsquellen und Handelswege in der Reichshauptstadt an. Der meiste Stoff sei bis zu 50 Prozent mit Substanzen wie Novocain gestreckt, in Einzeldosen von 0,5 bis 0,7 Gramm erhältlich und koste bis zu 30 Mark pro Gramm, ein Wucherpreis. Für das Pulver seien bei den Händlern Codewörter wie „Leinwand“, „Kragen“ oder „Mehl“ gebräuchlich.

Berlin-Mitte, Friedrich– / Ecke Französische Straße. “Friedrichstrasse – Lindenpassage”. Fotopostkarte, koloriert, 1929. Aus einer Serie: Berlin bei Nacht. Berlin, Sammlung Archiv für Kunst und Geschichte. |
"Fast jeder trägt seine Cocainbüchse": Berlin-Mitte, Friedrich–/Ecke Französische Straße in den 1920ern “Friedrichstrasse – Lindenpassage”. Fotopostkarte, koloriert, 1929. Aus eine...r Serie: Berlin bei Nacht. Berlin, Sammlung Archiv für Kunst und Geschichte. |
Quelle: picture alliance / akg-images

Was ihre Treffpunkte betraf, so waren die Süchtigen laut Joël und Fränkel nicht wählerisch: „Diese über die ganze Stadt verteilten Lokale variieren den wirtschaftlichen Abstufungen ihrer Besucher entsprechend zwischen gesuchter Eleganz und ärmlichster Einfachheit, wobei man aber oft genug beobachten kann, dass gerade in den trübsten Spelunken ein verhältnismäßig wohlsituiertes Publikum verkehrt.“ Bei Schließung des letzten Nachtclubs morgens um sechs verlagere sich der Handel auf die Straße und in Bahnhöfe.

In den eleganteren Lokalen ließ sich den Autoren zufolge ein Trend erkennen, der viel über das Selbstverständnis der Konsumenten aussagte: „Es wurde uns mehrfach geschildert, dass dort, wo fast jeder seine Cocainbüchse bei sich trägt, das Schnupfen kaum mehr die Sensationen eines heimlichen und unerlaubten Genusses bereitet, dass man sich eine Prise kaum anders als ein Glas Kognak bestellt.“ Seht her, lautete wohl die Botschaft, wir können uns das Zeug leisten, wann immer wir wollen – und niemand kann es uns verbieten.

Ury, Lesser 1861-1931. "Nächtliche Szene am Kurfürstendamm mit Blick in Richtung Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche", um 1925. Öl auf Leinwand, 51,5 x 36 cm. Inv.Nr. GEM 72/24 Berlin, Stiftung Stadtmuseum Berlin. |
"Ungeordnet auftauchende Erinnerungsbilder": nächtliche Szene am Kurfürstendamm (um 1925) von Lesser Ury
Quelle: picture alliance / akg-images

Louis Lewin, der Vater der deutschen Drogenforschung, beleuchtete 1927 die Frage, wie sich das Suchtmittel auf die kriminelle Energie seiner Verbraucher auswirkte. Lewin sah einen Zusammenhang von Konsum und Tat: „Die Willensfreiheit ist jedoch auszuschließen, falls man annehmen muss, dass vom Täter frische Eindrücke nicht mehr richtig verarbeitet werden, sondern dass neue Vorstellungen mit ungeordnet auftauchenden Erinnerungsbildern ihn verwirrt haben.“ Dabei sei es gleichgültig, ob man den Zustand als Störung des Bewusstseins oder als vorübergehende krankhafte Beschaffenheit der Geistestätigkeit beschreiben wolle.

Der Mediziner Paul Wolff kam zu einem ähnlichen Schluss: „Entsprechend dem Ausfall von Hemmungen und der Ausschaltung der Überlegung ist der Kokainist oft zu Triebhandlungen befähigt.“ Wolff schwankte jedoch in der Bewertung dieses Befundes.

Einerseits schrieb er, dass im Stadium der Sucht eine Krankheit vorliege. Andererseits findet sich bei ihm die Auffassung, Rauschgiftsüchtige seien „meist Degenerierte“. Typisch für seine unentschiedene Haltung ließ Wolff die Worte folgen: „Trotzdem aber sollen diese Personen nicht etwa im Werturteil von vornherein diskreditiert werden. Es gibt genug wertvolle Persönlichkeiten unter ihnen.“ Sucht als Krankheit oder eigenes Verschulden willensschwacher Menschen – das sind die Pole, um die sich noch immer das Gespräch über Drogen dreht.

Anita Berber, Rollenbild um 1920 Berber, Anita Taenzerin - Rollenbild. - Foto, um 1920 (Becker & Maass, Berlin). Mit eigenhaendigem Autogramm. |
"Ausfall von Hemmungen": Rollenbild von Anita Berber um 1920
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Die Kokain-Ikone Anita Berber wandte sich bald von Deutschland ab. Im Juni 1928 brach sie in Damaskus auf der Bühne zusammen. Sie erkrankte an Tuberkulose und machte sich mit ihrem Mann auf den Rückweg nach Europa. Künstler spendeten, damit es beide bis nach Berlin schafften. Am 10. November 1928 starb sie im Alter von 29 Jahren. Ihre Zeit war da schon lange vorbei.

1930 verschärfte die Regierung das Opiumgesetz, unter das auch Kokain fiel. Wer von den Süchtigen konnte, machte weiter wie bisher. Bis 1933 die Nationalsozialisten – unter ihnen der Morphinist Hermann Göring – dem Rauschgift offiziell den Kampf ansagten. Der deutsche Volkskörper, so tönten sie, müsse rein gehalten werden. Damit war auch dieses Erbe der Weimarer Republik endgültig beerdigt.

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