Man hatte sich solche Mühe gegeben, das Treffen geheimzuhalten. Dafür brach das ehrwürdige „Waldorf-Astoria“ in New York, seinerzeit sicher das bekannteste Hotel der Welt, sogar mit einer Tradition: Anders als üblich, wenn Staats- und Regierungschefs zu Gast sind, wurden am Sonntag, dem 13. März 1960, nicht die Flaggen ihrer Länder an den Masten über dem Eingang an der Lexington Avenue aufgezogen.
Sicher wollten die Hotelchefs aber auch Kritik vermeiden, die israelische Flagge neben dem Schwarzrotgold der Bundesrepublik zu zeigen – denn gleichzeitig zu Gast waren Israels Ministerpräsident David Ben-Gurion und der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer.
Mit der Geheimhaltung hatte es allerdings trotz der Vorsicht des „Waldorf“-Managements nicht besonders gut geklappt. Dutzende Journalisten und Fotografen stauten sich in der Lobby des Hotels, in der Hoffnung, einen Blick auf das Treffen der beiden Staatsmänner zu erhaschen. Nur anderthalb Jahrzehnte nach der Befreiung der nationalsozialistischen Todeslager trafen zum ersten Mal die führenden Politiker des jüdischen Staates und des Nachfolgestaates des Dritten Reiches aufeinander. Angeregt hatte dieses Treffen Ben-Gurion.
Michael Borchard, Chef des Archivs für Christlich-demokratische Politik und zuvor mehrere Jahre Leiter des Jerusalemer Büros der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, hat das Treffen der beiden Regierungschefs vor 60 Jahren als Ausgangspunkt für sein Buch über „Eine unmögliche Freundschaft“ gewählt. Tatsächlich verband die beiden 1960 bereits alten Männer – Ben Gurion war 73 Jahre, Adenauer schon 84 – eine gewisse Nähe, obwohl sie sich tatsächlich erst in New York das erste Mal persönlich begegneten.
Schon als Kölner Oberbürgermeister hatte Adenauer in den 1920er-Jahren gute Beziehungen zur Jüdischen Gemeinde seiner Heimatstadt gepflegt. Doch andererseits war er zeitlebens ein konservativer Katholik, während Ben-Gurion ein sozialistisch denkender Zionist war. Trotzdem fassten die beiden Männer, ohne sich zu kennen, ein Vertrauen zueinander, das es schließlich ermöglichte, über den Zivilisationsbruch des von Deutschland ausgegangenen Holocaust hinweg erste Kontakte zu knüpfen, um nach der schrecklichen Vergangenheit einen Weg zu finden, gemeinsam die Zukunft anzugehen.
Borchard zeigt in einer Art Parallelbiografie der beiden Protagonisten Ähnlichkeiten und Unterschiede in Ben-Gurions und Adenauers Leben, die schließlich in ihrer ersten Begegnung in New York 1960 und der zweiten (letzten) in Israel 1966 gipfelten. Und er konnte einige interessante Anekdoten über das Treffen selbst zusammentragen.
Zum Beispiel fand das Treffen in der Präsidentensuite des „Waldorf“ statt, in der Adenauer logierte und die im 35. Stock lag, weil Ben-Gurion das so wollte: „Er ist der Ältere“, hatte er entschieden. Zum Beispiel wählte der Israeli nicht den für einen Mann seines Alters sicher angemessenen Weg per Fahrstuhl aus seiner eigenen Suite im 37. Stock, weil reihenweise Pressevertreter im Aufzugsraum des 35. Stocks warteten. Also nahm Ben-Gurion am 14. März 1960 kurz vor 10 Uhr vormittags auf Anraten des zuständigen FBI-Beamten die Feuertreppe.
Im Gespräch selbst, auch daran erinnert Borchard, beging Adenauer einen schweren Fauxpas. Ben-Gurion hatte eben über die Verluste des jüdischen Volkes durch den Holocaust gesprochen. Besonders diejenigen, sagte er zutreffend, „die Weitblick, Wissen, Befähigung, Idealismus, Opferbereitschaft“ hatten, waren ausgerottet worden.
An dieser Stelle unterbrach Adenauer seinen Besucher: „In gewisser Weise“, griff er den Gedanken auf, „ähnelt das Schicksal der Juden dem unseren. Auch uns fehlen die Persönlichkeiten aus dieser Bevölkerungsschicht beim Wiederaufbau unseres Landes.“ Natürlich spielte der Bundeskanzler auf die besonders hohen Verluste bei deutschen Männern der Jahrgänge 1918 bis 1928 durch den Zweiten Weltkrieg an.
Selbstverständlich war diese Bemerkung vollkommen deplatziert. Denn die deutschen Verluste waren die Folge eines von Hitler-Deutschland ausgelösten furchtbaren Krieges, die Verluste der Judenheit hingegen Opfer eines grauenhaften Mordprogramms. „Ich denke nicht, dass man diese beiden Dinge gleichsetzen kann“, gab Ben-Gurion unwirsch zurück: „Sie können die Tragödie unseres Volkes mit nichts anderem gleichsetzen.“
Doch weil er kein Interesse hatte, die Situation zu eskalieren, wechselte der israelische Ministerpräsident rasch das Thema und kam zurück auf die Probleme beim Aufbau des jüdischen Staates. Er brauchte Unterstützung aus der Bundesrepublik. Vor dem Treffen hatte Ben-Gurion mit seinem Bürochef Jizchak Navon diskutiert, wie viel Geld er von Adenauer fordern solle – 250 Millionen oder eine Milliarde Dollar? Schließlich hatten sich die beiden auf die Mitte „geeinigt“: 500 Millionen.
Nach Adenauers Fauxpas kam Ben-Gurion darauf zu sprechen: „Wir möchten, dass Sie sich an der Entwicklung unseres Landes beteiligen. Israel muss Industrien aufbauen, um seine Schifffahrt und seine Landwirtschaft zu entwickeln und damit Arbeit für eine Million Menschen zu schaffen.“ Die Bundesrepublik könne direkt investieren oder zehn Jahre lang jeweils 50 Millionen Dollar als Anleihe geben.
Adenauer überging die für ein Gespräch unter Spitzenpolitikern ungewöhnliche Direktheit und antworte nach einem Scherz über möglicherweise installierte Abhörmikrofone: „Wir werden Ihnen helfen, aus moralischen Gründen und aus Gründen der praktischen Politik.“ Israel sei ein „Bollwerk des Westens“ und müsse sich „im Interesse der gesamten Welt“ weiterentwickeln: „Ich kann Ihnen schon jetzt sagen, dass wir Ihnen helfen werden. Wir werden Sie nicht im Stich lassen.“
Allerdings sagte Adenauer, wie Borchard zu Recht hervorhebt, kein Wort zur Höhe des vorgeschlagenen (oder geforderten) Engagements. Dafür war der „Alte von Rhöndorf“ natürlich viel zu erfahren und geschickt. Man einigte sich auf die Formel, der Grund für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Israel und der Bundesrepublik sei „bereitet“. Sie könne Ben-Gurion der israelischen Öffentlichkeit präsentieren.
Im Gegensatz zum letzten Thema der Unterredung – der militärischen Zusammenarbeit, mit anderen Worten: der Aufrüstung der israelischen Armee durch die Bundesrepublik. Der Ministerpräsident hatte eine Wunschliste im Kopf. Ganz oben standen darauf Raketen gegen Panzer und Flugzeuge sowie U-Boote. Adenauer stimmte zu und gab dem nicht anwesenden deutschen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß in dieser Sache freie Hand.
Nach anderthalb Stunden endete der vertrauliche Teil des Treffens, an dem außer den beiden Politikern nur zwei Dolmetscher teilnahmen. Nun wurden die wartenden Fotografen in die Präsidentensuite gebeten, um ihre Bilder zu machen. Diese Aufnahmen waren, neben der Tatsache des Treffens an sich und der Zustimmung Adenauers zu Ben-Gurions Wünschen, das Wichtigste. Denn vom 14. März 1960 ging wesentlich die eigentlich ganz und gar unwahrscheinliche Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Deutschland aus, die zu den zentralen außenpolitischen Erfolgen der frühen Bundesrepublik gehört.
Michael Borchard: „Eine unmögliche Freundschaft. David Ben-Gurion und Konrad Adenauer“ (Herder Verlag Freiburg. 384 S., 24 Euro)
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Dieser Artikel wurde erstmals im März 2020 veröffentlicht.