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Geschichte Spanische Grippe

„Die schwerste Seuche, die jemals über die Erde fegte“

Die letzte echte Pandemie suchte die Welt am Ende des Ersten Weltkriegs heim: Die Spanische Grippe forderte 1918/19 allein in Europa mehr als zwei Millionen Tote. Bis zu 50 Millionen sollen es weltweit gewesen sein.
Leitender Redakteur Geschichte
Die Westfront des Ersten Weltkriegs

Innerhalb von acht Wochen wollte die deutsche Heeresleitung 1914 im Westen gesiegt haben. Doch aus dem schnellen Feldzug wurde ein vierjähriger Grabenkrieg, dessen Linien sich kaum verschoben.

Quelle: N24

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Dieser Feind war unsichtbar und rückte lautlos vor. Kurt Tucholsky publizierte unter dem Pseudonym „Theobald Tiger“ Mitte Juli 1918 ein Gedicht: „Was schleicht durch alle kriegführenden Länder?/ Welches Ding schleift die infizierten Gewänder/ vom Schützengraben zur Residenz?/ Wer hat es gesehn? Wer nennt’s? Wer erkennt’s?“

Der Journalist Tucholsky konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, dass es keineswegs „die deutsche politische Krisis“ war, die er da beschrieb – sondern eine ganz natürliche Infektionskrankheit. Natürlich und ungeheuer tödlich. Es war die bisher letzte Pandemie, die Europa heimsuchte: die Spanische Grippe.

Ihren Ausgangspunkt hatte sie in den USA genommen: Irgendwann im Winter 1917/18 waren im Mittleren Westen mutierte Viren wohl von Schweinen auf Menschen übergesprungen. In den improvisierten Lagern, in denen die US-Armee in Kansas Zehntausende Rekruten auf den Kriegseinsatz in Europa vorbereitete, fand der Erreger ideale Bedingungen: schlechte Hygiene und unzählige vom ungewohnten Drill erschöpfte Menschen auf engem Raum.

Grippe-Patienten in einem Notfallkrankenhaus im Camp Funston der Militärbasis Fort Riley im US-Bundesstaat Kansas
Grippe-Patienten in einem Notfallkrankenhaus im Camp Funston der Militärbasis Fort Riley in Kansas 1918
Quelle: picture alliance / National Muse

Anfang März 1918 registrierten US-Militärärzte einen steilen Anstieg von Grippefällen. Doch für eine Eindämmung war es zu spät, denn längst waren Tausende Infizierte auf dem Weg über den Atlantik. Schon Ende März gab es die ersten registrierten Fälle mit ähnlichen Symptomen in der Bretagne – hier kamen zu dieser Zeit Woche für Woche einige Zehntausend US-Soldaten an.

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Von hier aus breitete sich das Virus gleichzeitig in alle Himmelsrichtungen aus – nach Paris und weiter nach Südfrankreich, über den Kanal nach Großbritannien, und natürlich zu den Fronten in Westbelgien und Ostfrankreich. Nach Spanien drang die Seuche ebenfalls vor. Und weil die Zeitungen des neutralen Landes recht frei berichten konnten, drangen von hier aus die ersten Nachrichten über die rätselhafte Epidemie nach Deutschland, die bald als „spanische Krankheit“ bekannt war.

Parallel dazu hatten deutsche Truppen in ihrer Frühjahrsoffensive ab dem 21. März 1918 erhebliche Geländegewinne an der Westfront gemacht. Dabei waren viele britische, französische und US-Soldaten in Gefangenschaft geraten. Darunter auch solche, die sich infiziert hatten. Nun verbreitete sich die Seuche auch unter deutschen Soldaten, die sich zu Zehn-, bald zu Hunderttausenden krankmelden mussten.

Selbst Erich Ludendorff, der Generalquartiermeister der Kaiserlichen Armee und eigentlich starke Mann des Reiches in dieser Zeit, musste das hinnehmen: „Die Grippe griff überall stark um sich“, schrieb er kaum ein halbes Jahr später in seinen Kriegserinnerungen über die Zeit Mitte Juni 1918: „Es war für mich eine ernste Beschäftigung, jeden Morgen von den Chefs (gemeint: den Stabschefs der verschiedenen Abteilungen der Obersten Heeresleitung; d. Red.) die großen Zahlen von Grippeausfällen zu hören.“

Doch die Krankheit blieb nicht bei den Truppen in Belgien und Nordostfrankreich. Mit infizierten Verwundeten und Heimaturlaubern drang die Spanische Grippe in Windeseile in die Heimat vor. Im Sommer 1918 erreichten die Erreger von Westen her die deutschen Städte – und zwar oft in einer noch gefährlicheren Variante. Im Freiburger Herder-Verlag zum Beispiel lag ein Lazarett, das nun wegen der immer größeren Zahl an Rekonvaleszenten erweitert werden sollte. Unter den neu Eingelieferten befanden sich viele schwer an Grippe erkrankte Soldaten.

Historische Grafik mit den Todesraten in New York, Berlin, Paris und London
Anstieg der Todesraten in den Städten New York, Berlin, Paris und London (Ausstellungsstück im Museum of Health & Medicine, Washington)
Quelle: Wikipedia/Public Domain

Am 8. Juli 1918 berichtete Walter Brasch, Chefarzt einer Klinik in Münchner Stadtteil Schwabing, über den Ausbruch: „Innerhalb von etwa zehn Tagen kamen 77 Grippekranke zur Beobachtung, und ihre Mortalität war erschreckend hoch. Sie betrug 24, und bemerkenswerterweise traf das traurige Schicksal zumeist jüngere, kräftige Individuen.“ Verstehen konnte der Mediziner das nicht: „Warum die älteren Leute von dieser schweren Infektion größtenteils verschont blieben, ist nicht genau klar. Möglicherweise waren sie durch früher überstandene Grippeerkrankung bis zu einem gewissen Grade immunisiert.“

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Von den Krankenhäusern aus verbreitete sich die Infektion weiter: „Ein paar Hundert Pflegerinnen fielen jeden Tag allein in den Münchner Lazaretten aus“, erinnerte sich der Historiker Karl Alexander von Müller: „Der Straßenbahnverkehr wurde eingeschränkt, in den großen Industriebetrieben waren bis zu einem Drittel der Belegschaften ausgeschaltet.“ Düster sinnierte Müller: „Es war der erste apokalyptische Reiter – wer wusste, ob nicht die anderen im fahlen Abendrot ihre Rosse zäumten?“

In der Reichshauptstadt kam die Infektion ebenfalls im Sommer 1918 an und verbreitete sich schnell: „Die Grippe in Berlin“, notierte die Künstlerin Käthe Kollwitz in ihr Tagebuch. Zu ihrem Mann Karl, der eine allgemeinmedizinische Praxis in Prenzlauer Berg betrieb, bekam auf einmal wesentlich mehr Patienten zu behandeln als gewöhnlich: „Am Dienstag hat Karl hundert Grippekranke. Er selbst wird krank am Mittwoch.“

St. Louis Red Cross Motor Corps on duty during the American Influenza epidemic. 1918. mask-wearing women holding stretchers at backs of ambulances. (Photo by: Universal History Archive/Universal Images Group via Getty Images) Getty ImagesGetty Images
"Es ist eine Art Grippe, aber ganz ungewöhnlich ansteckend": Mitarbeiterinnen des Roten Kreuzes in St. Louis (Missouri)
Quelle: Universal Images Group via Getty

In Leipzig notierte die Australierin Caroline Ethel Cooper, die seit 1897 in Sachsen lebte und nun als „feindliche Ausländerin“ galt: „Die sogenannte spanische Krankheit herrscht hier recht üppig. Es ist eine Art Grippe, aber ganz ungewöhnlich ansteckend.“ Nach der Infektion warf sie die Kranken für meist mehrere Tage, manchmal bis zu einer Woche nieder. Ungewöhnlich viele von ihnen starben – zu Beginn der Pandemie oft jeder zehnte Patient, in manchen Krankenhäusern und Lazaretten sogar jeder dritte. Selbst nach Breslau, in den Südosten des Reiches, drang die Pandemie vor: Im Sommer stieg die Säuglingssterblichkeit dort signifikant an.

Anfang August 1918 sickerte die Erkenntnis, dass die Pandemie den Krieg mitentscheiden könnte, in die Köpfe führender deutscher Militärs ein. Jedenfalls notierte der bayerische Kronprinz Rupprecht, Oberbefehlshaber der nach ihm benannten Heeresgruppe in Belgien: „Die schlechte Verpflegung, die großen Verluste und die stark aufgetretene Grippe beeinflussten die Stimmung der Mannschaften.“

Zwar wurden französische, britische und amerikanische Einheiten ebenso heimgesucht von der Infektion wie deutsche Soldaten. Aber sie waren inzwischen zahlenmäßig weit überlegen und vor allem an Nahrung und ärztlicher Versorgung weitaus besser aufgestellt. Da der Erreger der Grippe noch nicht bekannt war, schossen Verschwörungstheorien ins Kraut. Deutsche Agenten sollten Konserven vergiftet oder Krankheitserreger „an einem Ort, wo viele Menschen versammelt sind“, freigesetzt haben, wie es ein hochrangiger US-Sanitätsoffizier formulierte. In Deutschland hielt man das „Flandern-Fieber“ dagegen für eine Kriegsseuche.

Virus H1N1, Responsible For The Deadly Pandemy Of Spanish Flu In 1918 Tem. In 2005, Dr Terrence Tumpey National Center For Infectious Diseases, Cdc Succeded In Rebuilding This Virus From An Avian Influenza Transmissible Between Human Beings. His Study Will Permit To Understand Better The Modes Of Transmission Of The Virus H5N1 Of The Current Avian Influenza Virus. This Negative Stained Transmission Electron Micrograph Tem Showed Recreated 1918 Influenza Virions That Were Collected From The Supernatant Of A 1918 Infected Madin Darby Canine Kidney Mdck Cell Culture 18 Hours After Infection. In Order To Sequester These Virions, The Mdck Cells Were Spun Down Centrifugation, And The 1918 Virus Present In The Fluid Was Immediately Fixed For Negative Staining. Dr. Terrence Tumpey, One Of The Organization?S Staff Microbiologists And A Member Of The National Center For Infectious Diseases Ncid, Recreated The 1918 Influenza Virus In Order To Identify The Characteristics That Made This Organism Such A Deadly Pathogen. Research Efforts Such As This, Enables Researchers To Develop New Vaccines And Treatments For Future Pandemic Influenza Viruses. The 1918 Spanish Flu Epidemic Was Caused By An Influenza A H1N1 Virus, Killing More Than 500,000 People In The United States, And Up To 50 Million Worldwide. The Possible Source Was A Newly Emerged Virus From A Swine Or An Avian Host Of A Mutated H1N1 Virus. Many People Died Within The First Few Days After Infection, And Others Died Of Complications Later. Nearly Half Of Those Who Died Were Young, Healthy Adults. Influenza A H1N1 Viruses Still Circulate Today After Being Introduced Again Into The Human Population In The 1970S. (Photo By BSIP/UIG Via Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Der tödliche Influenza-Subtyp A-H1N1
Quelle: Universal Images Group via Getty

Erst im Jahr 2005 konnten Wissenschaftler dieses Phänomen klären, als sie den Influenza-Subtyp A-H1N1 rekonstruierten. Dieser war in der Lage, im ersten Ansturm die Immunantwort der Infizierten zu unterdrücken. Als ihr intaktes Immunsystem schließlich zum Gegenschlag ausholte, geriet dieser so heftig, dass er das Atemsystem angriff. Das bereitete einer bakteriellen Lungenentzündung den Weg, die den entkräfteten Körper überwältigte und häufig zum Tod führte. Die Patienten litten an Atemnot und erstickten, was die bläulich-schwarze Verfärbung ihrer Haut als Folge des Sauerstoffmangels erklärt.

Wie viele Opfer die Pandemie 1918/19 forderte, ist seriös kaum zu sagen. Für Deutschland liegt die Mindestschätzung bei 300.000 Toten, also fünf Promille der Bevölkerung. Es können aber auch doppelt so viele gewesen sein. Die Mediziner hatten anderes zu tun, als bei einem Toten, der Grippesymptome gezeigt hatte, festzustellen, ob eher die Infektion oder allgemeine Auszehrung zum Organversagen geführt hatte.

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Noch schwerer ist das für die Welt zu sagen. Der Medizinhistoriker Manfred Vasold, der sich in mehreren Büchern mit der Spanischen Grippe befasst hat, schätzt die Opferzahl auf 25 bis 40 Millionen bei damals 1,8 Milliarden Menschen Weltbevölkerung. Die Mortalität betrug also anderthalb bis zwei Prozent – und damit das 25-Fache einer „normalen“ Grippewelle. Andere Schätzungen reichen sogar bis 50 Millionen, gut das Fünffache der Toten auf den Schlachtfeldern des Weltkrieges. In Europa waren es mindestens 2,3 Millionen Grippetote, vielleicht aber auch bis zu 3,5 Millionen. 17 Millionen sollen es allein auf dem indischen Subkontinent und im zerfallenden russischen Imperium gewesen sein, wo die Grippe allerdings nicht allein als Todesbringer auftrat.

„Die Pandemie von 1918/19, die Spanische Grippe, war die schwerste Seuche, die jemals innerhalb eines so kurzen Zeitraumes über die Erde fegte“, schreibt Vasold. Sie sei ein „hervorragendes Beispiel“ für Transnationalität. Tatsächlich: Für Grenzen, Ethnien, Kulturen oder Sprachen interessieren sich Viren nicht. Sie wüten, wo immer sie Opfer finden.

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