Dichter Nebel lag am Morgen des 21. März 1918 über Nordostfrankreich – doch um 4.39 Uhr morgens konnten das die Männer in den Gräben beiderseits von Saint-Quentin, rund 140 Kilometer nordöstlich von Paris, nur erahnen. Noch zwei Stunden waren es bis Sonnenaufgang, zwei Stunden bis zum Wachwechsel, zu wenigstens etwas Wärme im Unterstand und heißem Tee, dachten sich sicher viele der britischen Soldaten nördlich der Stadt und der Franzosen im Süden. Eine Minute später hatte sich diese Hoffnung erledigt.
Denn genau um 4.40 Uhr begann das Bombardement der Gräben durch deutsche Artillerie. Auf einer Frontbreite von 70 Kilometern schossen 6608 Geschütze und 3534 Minenwerfer die folgenden fünf Stunden lang ununterbrochen. Gemessen an früheren Artillerievorbereitungen für Großoffensiven, war das gar nicht einmal sehr lange: Vor der Somme-Schlacht im Sommer 1916 hatten die Briten ein siebentägiges Trommelfeuer auf die deutschen Stellungen niedergehen lassen, und bei Messines waren es 1917 sogar 16 Tage gewesen.
Um 9.40 Uhr an diesem Donnerstag veränderte sich das Feuer geringfügig: Die deutschen Artilleristen zielten weiter ins Hinterland und beschossen die vordersten feindlichen Gräben nicht mehr. Die britischen und französischen Soldaten, die sich in ihre außer bei Volltreffern einigermaßen sicheren Unterstände zurückgezogen hatten, waren also nicht wirklich überrascht, als wenige Minuten später aus den Nebelschwaden deutsche Soldaten in kleinen Gruppen auf sie zukamen.
Mit dabei war Ernst Jünger, Leutnant und Kompaniechef im 73. Infanterieregiment. In sein Tagebuch notierte er, seine Männer und ihn hätte an diesem Morgen eine „widersprüchliche Mischung von Gefühlen“ beherrscht, ein Nebeneinander von „Aufregung, Blutdurst, Wut und Alkoholgenuss“. Sich vor einer Offensive Mut anzutrinken war längst üblich im deutschen Heer.
Den vordersten britischen Graben nahm seine Kompanie ohne Probleme – er war einfach leer. Doch schon aus dem zweiten Schützengraben der tief gestaffelten Stellung schlug Jünger „wider alles Erwarten“ heftiges MG-Feuer entgegen. Voller Erregung hetzte der junge Offizier weiter – und traf auf den Gegner.
„Da erblickte ich den ersten Feind. Ein Engländer kauerte verwundet mitten in dem zertrümmerten Hohlweg. Die Pistole hebend, ging ich auf ihn zu, da hielt er mir flehend eine Karte entgegen.“ Es war ein Foto, auf dem eine Frau und „mindestens ein halbes Dutzend Kinder“ zu sehen waren. Offenbar die Familie des britischen Soldaten.
Jünger musste nun entscheiden: Schießen und töten – oder nicht? „Ich freue mich jetzt doch, dass ich meine irrsinnige Wut bezwang und an ihm vorüberschritt.“ Der Brite geriet in Gefangenschaft. Ob die Anekdote stimmt, weiß niemand, denn alle Aufzeichnungen Jüngers waren stilisiert, sowohl die ursprünglichen Notizen wie die immer wieder überarbeitete Buchfassung unter dem Titel „In Stahlgewittern“.
Vermutlich aber machte seine Einheit an diesem Morgen tatsächlich Gefangene. Insgesamt meldeten die drei am Angriff beteiligten deutschen Armeen am Abend des 23. März 1918 mehr als 40.000 Soldaten der Entente in ihrer Hand sowie fast 400 erbeutete Geschütze. Wie viele Tote und Verwundete die Kämpfe allein in den ersten beiden Tagen auf beiden Seiten forderten, wurde nie detailliert erhoben.
Erich Ludendorff (1865-1937) – Stationen
Trotz der hohen Zahl an Gefangenen erreichte der Auftakt des „Unternehmens Michael“ nicht die gesteckten Ziele. Bis zu 4,5 Kilometer weit waren die 2., die 17. und die 18. deutsche Armee in die feindlichen Stellungen eingedrungen. Doch geplant gewesen war ein Vorstoß von acht Kilometern – also auch durch die Hauptkampflinien des Feindes und in deren Hinterland, wo die schweren Artilleriebatterien auf befestigten Bettungen standen.
Deshalb war die Stimmung im Großen Hauptquartier im belgischen Kurort Spa am Morgen des 22. März 1918 „flau“, wie Admiral Georg Alexander von Müller festhielt, der Chef des Marinekabinetts, faktisch der Personalabteilung der deutschen Flotte. Die Behauptung des Ersten Generalquartiermeisters Erich Ludendorff, der Erfolg des Unternehmens sei gewiss, war wohl übertrieben gewesen.
Nur zwei Tage später änderte sich das Bild, herrschte auf einmal Optimismus, wie der Militärhistoriker und Bundeswehroffizier Gerhard P. Groß in seiner Darstellung „Das Ende des Ersten Weltkrieges und die Dolchstoßlegende“ darlegt. Auf dem Rückweg von einem Besuch in der Nähe der Front (aber natürlich außerhalb der Reichweite feindlicher Geschütze) rief Wilhelm II. der Wache des Hauptquartiers zu: „Die Schlacht ist gewonnen, die Engländer sind total geschlagen!“
Der Kaiser jubilierte. Admiral von Müller überlieferte seine Freude so: „Wenn ein englischer Parlamentär komme, um den Frieden zu erbitten, so müsse er erst vor der Kaiserstandarte knien, denn es handele sich um einen Sieg der Monarchie über die Demokratie.“
Was war geschehen? Am Morgen des 22. März 1918 hatten die deutsche 2. und die 18. Armee ihren Angriff wieder aufgenommen – und diesmal durchstießen sie die feindlichen Stellungen tatsächlich. Zwar nur, weil sich die völlig ausgelaugte britische 5. Armee vor ihnen zurückzog. Doch deren Oberbefehlshaber Sir Hubert Gough wurde wenige Tage später von seinem Kommando entbunden; er gab also den Sündenbock für die britische Niederlage bei Saint-Quentin ab.
„Jetzt musste sich Ludendorff als strategisch denkender Feldherr erweisen – und er versagte“, urteilt Oberst Groß in seiner packend geschrieben Zusammenfassung. Statt nämlich wie geplant die nur langsam vorankommende 17. Armee am nördlichen Rand der Offensive zu unterstützten, indem die 2. Armee ihren Vormarsch nach Nordwesten verschwenkte, um wie geplant die Engländer von den Franzosen zu trennen und gegen den Ärmelkanal zu drücken, setzte er auf einen Erfolg auch gegen die Franzosen im Süden. Deshalb bekam die 18. Armee den Großteil der Reserven zugeschlagen.
Ein fataler Fehler: „Die klare Schwerpunktbildung wurde aufgegeben, die Strategie der Taktik untergeordnet“, schließt Gerhard P. Groß. Schon in diesem Moment ging die letzte deutsche Großoffensive im Ersten Weltkrieg verloren – auch wenn im April, Mai, Juni und sogar Juli noch weitere Angriffsoperationen zwischen Reims und Ypern folgten.
Gerhard P. Groß: „Das Ende des Ersten Weltkrieges und die Dolchstoßlegende“. (Reclam, Stuttgart. 156 S., 14,95 Euro)
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