Ein einzelner Mann, schwarze Hose, weißes Hemd, in den Händen zwei Plastiktüten, hielt vier Panzer auf. Diese Szene, aufgenommen am Mittag des 5. Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, ging am selben Abend um die Welt. Ein Kamerateam von CNN hatte die Konfrontation auf Video festgehalten. Wer der nur von hinten aufgenommene Mann war und was aus ihm wurde, blieb unbekannt. Aber die Nachrichtensendungen in der gesamten westlichen Welt brachten die Bilder.
Gesehen wurden sie auch in der DDR. Obwohl die „Aktuelle Kamera“, das Flaggschiff des Staatsfernsehens, diese Bilder natürlich nicht zeigte. Stattdessen verlas Sprecher Wolfgang Lippe fünf Minuten lang Aufrufe der chinesischen KP, in denen eine „extreme Minderheit“ für den „konterrevolutionären“ Aufstand verantwortlich gemacht wurde.
Am folgenden Morgen trat wie immer dienstags um 10 Uhr im Gebäude des Zentralkomitees der SED in Berlin-Mitte das Politbüro zusammen. Unter dem Vorsitz des Generalsekretärs Erich Honecker versammelten sich 18 Mitglieder und drei „Kandidaten“ dieses höchsten Gremiums der SED-Diktatur. In nur 55 Minuten erledigten die Parteifunktionäre 18 Tagesordnungspunkte; zwei weitere wurden im Umlauf in den folgenden Tagen bestätigt.
Angesichts von Honeckers schleppender Redeweise dürfte auch sein Bericht „zur Lage in der Volksrepublik China“ eher kurz ausgefallen sein. Das Ergebnisprotokoll, das im Bundesarchiv erhalten ist und online eingesehen werden kann, hält lediglich fest: „Die Information wird zustimmend zur Kenntnis genommen.“ Ferner stimmte das Politbüro der Veröffentlichung der „offiziellen Materialien der Volksrepublik China zur Niederschlagung des konterrevolutionären Aufstandes“ zu.
Was genau Honecker sagte, ist nicht überliefert. Aber es dürfte wohl dem entsprochen haben, was Wolfgang Lippe am Abend zuvor in der „Aktuellen Kamera“ verkündet hatte und was das SED-Parteiorgan „Neues Deutschland“ an eben diesem Morgen auf der Titelseite und fast der halben Seite 2 verkündet hatte.
Dabei wusste das Politbüro nach der Erinnerung seines Mitgliedes Günter Schabowski, des Chef der Ost-Berliner SED-Organisation, fast gar nichts. „Im Politbüro herrschte zu diesem Zeitpunkt noch Skepsis und Unklarheit über die Vorgänge“, sagte er ein Jahr später in seinem ersten ausführlichen Interview gegenüber westlichen Journalisten: „Wir kannten eigentlich nur die westlichen Informationen, die von einem fürchterlichen Massaker berichteten.“
Schabowski versuchte, sich „anhand der Bilddokumente“ einen Eindruck zu verschaffen. „Aber wir hatten in der DDR keine Daten, die das Ausmaß des Massakers berichteten.“ Doch das genügte nicht.
Ende Juni 1989 reiste Hans Modrow, der Chef des Dresdner SED, nach Peking. Selbst nicht Mitglied des Politbüros, sollte er wohl niederschwellig Informationen einholen. Ein höherer chinesischer KP-Funktionär empfing den Abgesandten und seine Delegation.
Doch über die eigentlich entscheidende Frage hatte dieser Wu Xueqian nichts Wesentliches mitzuteilen. „Er informierte über den jüngsten antisozialistischen Aufruhr in der Volksrepublik China und die Anstrengungen der Partei- und Staatsführung zur schnellen Normalisierung der Lage“, berichtete das „Neue Deutschland“ und fuhr fort: „Im Namen der Partei- und Staatsführung dankte er für die solidarische Haltung der SED und des ganzen Volkes der DDR mit dem chinesischen Volk und der KP Chinas in dieser schwierigen Phase.“
Das genügte nicht. Also trug Honecker dem bekanntermaßen durchsetzungsfähigeren Schabowski für dessen schon länger geplante Chinareise auf: „Versuch herauszukriegen, was sich da wirklich abgespielt hat!“
Knapp zwei Wochen nach Modrow bekam Schabowski einen Termin beim neuen chinesischen KP-Chef Jiang Zemin. Also jenem Funktionär, der nach der Niederschlagung der Massenproteste vom eigentlich starken Mann Chinas Deng Xiaoping mit der formalen Leitung der Staatsgeschäfte beauftragt worden war.
Jiang „würdigte“ laut „Neuem Deutschland“ die „solidarische Haltung der SED und der DDR gegenüber den Schritten der KP Chinas bei der Niederschlagung der Unruhen“. Und der Chinese fügte ein vergiftetes Lob hinzu: „In einer Zeit der Prüfung erkennt man seine wahren Freunde.“
Nach Schabowskis 1990 formuliertem Eindruck war es Jiang jedoch „unangenehm, darüber zu sprechen“. Es sei kein Ton von Triumph oder Rechtfertigung zu vernehmen gewesen. Er räumte ein, dass es Hunderte Tote unter den Demonstranten gegeben habe.
Angesichts dessen verzichtete Schabowski darauf, die vorbereitete Solidaritätserklärung der DDR-Volkskammer zu übergeben. Als „besonderer Gag“ war ihm noch mitzuteilen aufgetragen worden, offenbar von Honecker, „dass wir die DKP zur Ordnung gerufen hätten“.
Tatsächlich hatte sich die nahezu ausschließlich aus der DDR finanzierte Deutsche Kommunistische Partei in der Bundesrepublik „ohne Auftrag und Not“ von dem chinesischen Vorgehen distanziert. Schabowski fand, die Stimmung in Peking passe nicht zu einer derartig platten Bemerkung.
Weiter knapp drei Monate später reiste die nächste SED-Delegation nach Peking, diesmal unter Leitung von Honeckers Kronprinz Egon Krenz. Offizieller Anlass waren die Feiern zum 40. Jahrestag der Volksrepublik. Ganz im Gegensatz zu Schabowski unterstützte der ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen, der faktisch für die Bekämpfung der Opposition in der DDR zuständig war, offen die „chinesische Lösung“ der Proteste.
Klassensolidarität sei für die Kommunisten in der DDR „eine Sache der Klassenehre und Klassenpflicht“, sagte Krenz. Man stehe „auf der Barrikade der sozialistischen Revolution“ in der DDR wie in China dem gleichen Gegner gegenüber. Jiang Zemin bedankte sich bei Krenz „für die Gefühle brüderlicher Verbundenheit“.
Angesichts dessen ging unter Bürgerrechtlern in der DDR die Angst um, auch in Ost-Berlin, Leipzig oder Dresden könnte das kommunistische Regime bei oppositionellen Kundgebungen zu Gewalt greifen. Das war begründet, hatte doch bereits am 13. Juni 1989 die DDR-Volksbildungsministerin Margot Honecker verlauten lassen, in einer „kämpferischen Zeit“ müsse man den Sozialismus notfalls auch „mit der Waffe in der Hand verteidigen“. Die nächste Montagsdemonstration stand am 2. Oktober 1989 in Leipzig an.
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Dieser Artikel wurde erstmals im Juni 2019 veröffentlicht.