William H. Tunner war kein Mann der leisen Worte. Als ihn US-Militärgouverneur Lucius D. Clay fragte, ob er die Versorgung der blockierten Westsektoren von Berlin übernehmen könne, lautete die Antwort: „Wir können alles jederzeit überallhin transportieren.“ Tunner bekam den Job, mit dem „Berlin Air Lift“ die größte Luftbrücke zu organisieren, die es bis dahin gegeben hatte.
Als Transportfachmann hatte Tunner bereits im Zweiten Weltkrieg den Nachschub für die nationalchinesischen Truppen von Indien aus über den Himalaya organisiert. Auch als die Sowjetunion im Juni 1948 mit der Blockade Berlins den Abzug der drei Westmächte aus der geteilten Stadt erzwingen wollten, war er der richtige Mann am richtigen Ort.
Nach einigen Monaten hatte er das anfängliche Chaos in eine erfolgreiche Routine verwandelt. Um zum Beispiel Staus im Luftraum zu verhindern, bewilligte Tunner den Transportflugzeugen nur einen Landeversuch. Sollte der nicht gelingen, mussten sie zu ihrer Basis im Westen zurückkehren. Damit blieb der Rhythmus gewahrt, nach dem im Schnitt alle drei Minuten eine Maschine in West-Berlin landete.
Seit Dezember überschritt die Menge der eingeflogenen Versorgungsgütern für die von der Versorgung abgeschnittene Zwei-Millionen-Teilstadt regelmäßig die als tägliches Minimum gesetzte Marke von 4500 Short Tons (eine Short Ton entsprach 2000 US-Pfund, also 907,2 Kilogramm), selbst bei schlechten Wetterbedingungen. Im Januar 1949 stieg die durchschnittliche Leistung auf 5541 Short Tons täglich, im März auf 6328 Short Tons.
Tunner hätte zufrieden sein können. Aber das entsprach nicht dem Charakter des Air-Force-Offiziers, der selbst von frühmorgens bis spätabends arbeitete und seine karge Freizeit gern mit Überführungsflügen verbrachte. Er verfügte im Frühjahr 1949 über 249 US-Transportmaschinen C-54 Skymaster und 154 britische Flugzeuge der verschiedensten Typen. Das war rund das Doppelte an Transportkapazität, was er als Minimum in Washington, D.C. gefordert und umgehend bewilligt bekommen hatte – nämlich 178 ständig einsetzbare viermotorige Frachter.
1948 fliegen erste Rosinenbomber über Berlin
Vom 24. Juni 1948 bis zum 12. Mai 1949 blockieren die Sowjets die Westsektoren Berlins. Eine ”Luftbrücke” ist der einzige Versorgungszugang. 277.778 Mal starten die ”Rosinenbomber”.
Quelle: STUDIO_HH
Außerdem wusste Tunner: Eigentlich waren die Sowjets so weit, dass sie die auch für sie aufwendige Blockade der drei westlichen Sektoren der früheren Reichshauptstadt abbrechen wollten. Sie brauchten nur noch einen Anstoß. Zu diesem Zweck wollte der US-General den Blockade-Streitkräften drastisch die Aussichtslosigkeit ihres Erpressungsversuchs vor Augen führen.
Tunner verfiel darauf, einen Tageswettbewerb auszurufen. Seine Besatzungen und die Zehntausenden Männer und Frauen, die in West-Berlin und auf Basen in Westdeutschland, Großbritannien und Frankreich im Hintergrund für die Luftbrücke ackerten, sollten sich herausgefordert fühlen, Höchstleistungen zu erbringen. Das entsprach seiner Lebenserfahrung. „Mit den Jahren habe ich festgestellt, dass amerikanische Soldaten und Piloten sich in einem Konkurrenzkampf gut entwickeln“, gab er einmal zu Protokoll.
Allerdings gab es ein Problem. Das hieß John K. Cannon und war als Oberbefehlshaber der US Air Force in Europa Tunners Vorgesetzter. Riskanten Aktionen, wie sie diesem vorschwebten, stand er höchst skeptisch gegenüber. Daher wählte Tunner Ostern 1949 als Zeitpunkt für seine Machtdemonstration. Da würde der ungeliebte Chef in den USA weilen und sich nicht einmischen können. Aber das bedeutete auch: Tunners Stab musste alles unter großer Geheimhaltung vorbereiten.
Und vorzubereiten war viel, denn Rekorde brauchen Planung. Die Wartungszyklen wurden insgeheim so organisiert, dass an Ostern tatsächlich nahezu alle Maschinen zur Verfügung stehen würden. Für das fliegende Personal und die meisten sonstigen Mitarbeiter des „Air Lift“ galt eine informelle Urlaubssperre – Anträge auf Abwesenheit Mitte April wurden kommentarlos abgelehnt. Auf den Basen in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Hessen entstanden Lager, um auf jeden Fall genügend Nachschub zur Verfügung zu haben. Und Tunner entschied, dass der Rekord mit im Wesentlichen einer Fracht erreicht werden sollte: Kohle in Säcken.
Sven Felix Kellerhoff erinnert an die Berliner Luftbrücke
Der WELT-Journalist und Historiker Sven Felix Kellerhoff spricht im Talk mit Martin Heller über die „Rosinenbomber“, die vor 70 Jahren die West-Berliner Bevölkerung versorgten.
Quelle: WELT/Sven Felix Kellerhoff/Martin Heller
Am Ostersamstag, dem 16. April 1949, startete der Rekordversuch. Schriftliche Anweisungen gab es dafür nicht, nur Mundpropaganda. Und die Begeisterung der Männer aus Tunners Stab, die vertraulich alles vorbereitet hatten und nun ihre Schreibtische verließen, um selbst als Piloten in die Maschinen zu steigen oder auf den Flugplätzen ihre Leute anzufeuern.
Intern und ebenfalls nur mündlich hatte Tunner das Ziel von 10.000 Short Tons mit 1440 Flügen binnen 24 Stunden ausgegeben. Das waren fast 50 Prozent mehr als der Tagesdurchschnitt von immerhin schon 7100 Short Tons, den die Luftbrücke am Gründonnerstag erreicht hatte. Die Hälfte mehr, und das ohne zusätzliche Kapazitäten, einfach nur durch maximale Ausreizung aller Ressourcen.
Von Ostersamstag zwölf Uhr mittags wurde separat gezählt. Auch Tunner verließ nun sein Hauptquartier in Frankfurt am Main und flog nach Berlin. Die folgenden Stunden pendelte er zwischen verschiedenen Flugplätzen, mischte sich in Kontrollräumen in den Funkverkehr ein und feuerte seine Besatzungen an.
Besonders die schon sprichwörtliche Konkurrenz zwischen den beiden wichtigen Luftbrücken-Basen Faßberg und Celle heizte er zusätzlich an. In den frühen Morgenstunden landete er in Faßberg und sah, dass die Frau des Flugplatz-Kommandanten mit einigen Freundinnen Kaffee und Kuchen an die deutschen Lademannschaften verteilte. Der Kommandant prahlte seinem Chef gegenüber, die angesetzte Frachtleistung bereits um zehn Prozent übertroffen zu haben. Tunner antwortete kalt, Celle liege bereits zwölf Prozent über dem Plan.
Manchmal gingen Verantwortliche hohe, vielleicht zu hohe Risiken ein. Eine C-54 scherte aus der Reihe der startbereiten Maschinen in der Rhein-Main-Base aus und rollte zurück. Major Albert Schneider, der Kommandant der Transportstaffel, wollte über Funk wissen, warum. Der Pilot antwortete, einer seiner Motoren verliere zu viel Öl. Schneider befahl die Maschine zurück auf Startposition, ließ den regulären Piloten aussteigen, übernahm selbst das Kommando und flog die Skymaster persönlich nach Berlin und wieder zurück. Das hätte auch schiefgehen können.
Doch Tunner hatte Glück: In der „Oster-Parade“ kam es zu keinem Unfall. Das Wetter spielte mit, alle Piloten waren hochaufmerksam, die Maschinen fast ausnahmslos frisch gewartet. Schlendrian hatte in diesen 24 Stunden keine Chance. So übertraf Tunners Organisation das selbst gestellte Ziel nicht nur um zehn Prozent oder 20, sondern um fast ein Viertel. Genau 12.491 Short Tons, 24,9 Prozent mehr als erwartet, erreichten binnen 24 Stunden West-Berlin.
Das gelang mit 1398 Flügen, also durchschnittlich alle 62 Sekunden einem. Das Ziel, wirklich jede Minute eine Maschine in der blockierten Stadt landen zu lassen, wurde knapp verfehlt. Weil aber jedes gelandete Flugzeug auch wieder starten musste, gab es tatsächlich alle 31 Sekunden eine Flugbewegung auf einem der drei West-Berliner Flughäfen.
Ein Rekord, der auch 70 Jahre später fast alle Flughäfen der Welt alt aussehen ließe. Selbst der meistfrequentierte Flughafen, Atlanta im US-Bundesstaat Georgia, kam 2016 auf durchschnittlich eine Flugbewegung alle 33 Sekunden. In Frankfurt/Main zählte man durchschnittlich eine Flugbewegung alle 68 Sekunden.
Die Sowjets verstanden die Botschaft hinter Tunners Rekord: Die Luftbrücke war nicht nur nicht am Ende, sie könnte nahezu unbegrenzt fortgesetzt werden. Die West-Berliner standen zu den Alliierten und trugen die massiven Einschränkungen mit. Kurz nach der „Oster-Parade“ begannen insgeheim am Rande einer Konferenz bei den Vereinten Nationen in New York amerikanisch-sowjetische Konsultationen über ein Ende der Blockade. Stalins Diplomaten wollten verhindern, dass die UdSSR ihr Gesicht verlor. Doch die Sackgasse, in die sich der Diktator in Moskau manövriert hatte, war ausweglos.
Schließlich hoben die Sowjets um Mitternacht des 12. Mai 1949 die Sperrung der Verkehrswege nach West-Berlin auf. Der Westen hatte die erste große Schlacht des Kalten Krieges gewonnen. Ohne einen Schuss abzufeuern, allerdings nicht ohne Opfer: 41 Briten, 31 Amerikaner und 13 Deutsche verloren ihr Leben bei Unfällen während der Luftbrücke.
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