Es war eine Demütigung sondergleichen: Als die deutschen Minister Hermann Müller und Johannes Bell am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal von Versailles ihre Unterschriften unter den Versailler Vertrag setzten, mussten sie eine Gruppe verstümmelter französischer Soldaten passieren – Gesichtsverletzte mit Schädelbinden, fehlenden Nasen und zerschossenen Kiefern.
„Kein Zweifel: Von den verstümmelten Soldaten sollte keine Botschaft des Friedens ausgehen“, schreibt der Marburger Historiker Eckart Conze in seinem neuen Buch „Die Große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt“. Sie sollten den deutschen Kriegsverlierern vor den Augen der Welt die alleinige moralische Schuld zuweisen.
Das tat auch der Friedensvertrag, in dessen Artikel 231 es heißt, „dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben“. Nicht umsonst bezeichnet Papst Benedikt XV. das Vertragswerk als „rachsüchtiges Diktat“ und forderte Gerechtigkeit für die besiegten Mittelmächte.
Westfälischer Friede von 1648 und Wiener Kongress 1815: Die beiden großen europäischen Friedensschlüsse der Neuzeit schufen eine lang währende stabile Ordnung. Der Versailler Vertrag aber war schon 20 Jahre später Makulatur. Und noch mehr: Es war ein von allen Seiten ungeliebter Friedensschluss, der für viele dem Aufstieg Hitlers den Boden bereitete. „Auf allen Seiten ging auch nach dem Waffenstillstand der Krieg in den Köpfen weiter“, schreibt Conze. „Versailles – das war der Frieden, den keiner wollte.“
Conze warnt vor Kurzschlüssen. Der Weg zu Hitler sei keineswegs zwangsläufig gewesen; die Weimarer Republik habe durchaus eine Erfolgschance gehabt. Und er wendet sich gegen eine zu sehr auf Westeuropa fixierte Sichtweise. Denn der Versailler Vertrag und die weiteren Pariser Vorortverträge – der Vertrag von Saint-Germain mit Österreich 1919, der Vertrag von Trianon mit Ungarn 1920, der Vertrag von Sèvres mit dem Osmanischen Reich 1920 – hatten weltweite Auswirkungen.
„Vielleicht unternahm die Pariser Friedenskonferenz von vornherein etwas Unmögliches“, zitiert der Marburger Experte für deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert den Publizisten Sebastian Haffner. Gründe für das Scheitern gibt es viele: Da gab es einerseits die große Friedenssehnsucht und die illusionären Hoffnungen, dass nach dem mörderischsten Krieg der Geschichte endlich eine stabile Ordnung geschaffen würde. Doch da war andererseits der immense Hass zwischen den nationalistisch aufgeheizten Gesellschaften, die Vergeltung wollten, auch in Form exorbitanter Reparationen.
Anders als die Friedensschlüsse von Münster/Osnabrück und Wien, wo Politiker und Diplomaten hinter verschlossenen Türen verhandelt hatten, fanden die Versailler Friedensverhandlungen vor einer aufgeheizten Öffentlichkeit statt. „Frieden schließen nach totalem Krieg, dafür gab es keine Vorbilder“, schreibt Conze.
Zugleich stand die Welt in Versailles vor einem ganzen Bündel von Problemen: Der Zerfall des Osmanischen Reichs, der Habsburger Monarchie und Russlands löste zusammen mit dem insbesondere vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson propagierten Selbstbestimmungsrecht der Völker eine Welle von Nationalismus, ethnischen Auseinandersetzungen und die Gründung neuer Nationalstaaten aus. Bis heute zeigen sich die Folgen etwa auf dem Balkan, in Palästina, dem Irak oder zwischen der Türkei und Griechenland.
Dramatische Auswirkungen hatte Versailles auch auf die koloniale Welt. Die Auflösung des deutschen Kolonialreichs und das Ende der osmanischen Herrschaft über weite Teile des Nahen und Mittleren Ostens weckten bei den Bevölkerungen Hoffnungen auf Selbstbestimmung. Sie wurden enttäuscht, weil Frankreich und England diese Regionen in ihr eigenes Kolonialreich eingliederten. Mittelfristig führte das zu einer Stärkung der Unabhängigkeitsbewegungen.
Die Versailler Friedensordnung, die die großen vier – neben Wilson der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau, der britische Premier David Lloyd George und der italienische Ministerpräsident Vittorio Emanuele Orlando – in wenigen Monaten manchmal geradezu hemdsärmlich oktroyierten, erwies sich als instabil und kurzlebig. Zu ihrer Zerstörung trug auch bei, dass Kongress und Öffentlichkeit der USA nicht bereit waren, die von ihrem Präsidenten wesentlich mit geschaffene Ordnung zu stabilisieren, etwa im Völkerbund. Das sollte sich nach der Kapitulation des Dritten Reiches 1945 ändern.
Conze sieht – bei aller Vorsicht – Ähnlichkeiten zu heute. Eine USA, die sich unter Präsident Donald Trump aus internationalen Organisationen zurückziehen, der Wiederaufstieg von Populismus und Nationalismus in Europa und eine tiefe Vertrauenskrise: Geschichte wiederholt sich nicht, aber die Parallelen sind nicht zu übersehen.
Eckart Conze: „Die Große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt“. (Siedler, München. 560 S., 30 Euro)
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