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Geschichte Entscheidung 1918

„Blut und Gehirn läuft über mich in meine Rockärmel“

Mit dem „Unternehmen Michael“ hatte die deutsche Oberste Heeresleitung 1918 im Westen den entscheidenden Durchbruch erzwingen wollen. Bis zum 5. April betrugen die Verluste 240.000 Soldaten.
Leitender Redakteur Geschichte
Die Westfront des Ersten Weltkriegs

Innerhalb von acht Wochen wollte die deutsche Heeresleitung 1914 im Westen gesiegt haben. Doch aus dem schnellen Feldzug wurde ein vierjähriger Grabenkrieg, dessen Linien sich kaum verschoben.

Quelle: N24

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Ostern war fürchterlich. „Wir haben schlimme Feiertage verlebt“, schrieb der Gefreite Pius Mayer am 5. April 1918 an seine Freundin Kathi im Allgäu: „Ostereier legten uns die englischen Flieger genug. Am Ostertag nachmittags regnete es, was runter konnte, und wir standen im Freien, ebenso nachts, da gruben wir ein Loch in den Boden, um wenigstens gegen den Wind geschützt zu sein.“

Der 30-Jährige, ein gelernter Metzger, kannte den Krieg. Seit 1914 diente er, unterbrochen von mehreren Lazarettaufenthalten, in der 11. Kompanie des badischen 114. Infanterieregimentes. Gekämpft hatte seine Einheit vorwiegend in der Champagne und in Flandern; seit dem 21. März 1918, dem Beginn des „Unternehmens Michael“, war sie an der Somme im Einsatz.

Killed German machine gunner at his post at Villers-devant-Dun in France during World War I Date: 11 April 1918 (Mary Evans Picture Library) | Nur für redaktionelle Verwendung., Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
Einer von fast 240.000: deutscher Soldat, April 1918
Quelle: picture-alliance / Mary Evans/Ro

Am Ostermontag 1918 steigerte sich das Grauen, das Mayer gewohnt war: „Mittags ein Uhr muss die ganze 2. Armee angreifen, wozu auch wir gehören“, berichtete er an Kathi: „Wir gehen also vor – aber welches Feuer. Wir springen von Granatloch zu Granatloch. Mit den Fingernägeln graben wir uns in den Boden, in den die Kugeln einschlagen. Wir kommen ein Stück mit vor, dann bleiben wir. Wir haben schon ziemliche Verluste.“

Dann der Gegenangriff der Briten: „Wir salzen ihnen gehörig ein“, schrieb Pius Mayer: „Ich verschieße in kurzer Zeit 150 Patronen.“ Als seine Munition zur Neige geht, nimmt er das Patronentäschchen eines gefallenen Kameraden neben sich: „Die kommen mir gut.“

Defending troops lining a railway line at the Battle of Hazebrouck in Merville on the Western Front in Belgium during World War I in April 1918 Date: April 1918 (Mary Evans Picture Library) | Nur für redaktionelle Verwendung., Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
Britische Soldaten halten sich für einen Gegenangriff in Nordostfrankreich bereit
Quelle: picture-alliance / Mary Evans/Ro

Bis auf 300 Meter Entfernung rücken britische Soldaten heran, sogar Kavalleristen. „Aber da fällt der eine um den anderen, und da machen sie plötzlich kehrt und gehen wieder zurück.“ Es wird dunkel, die Angriffe schlafen ein. Doch am Dienstag nach Ostern geht es weiter. Mayers Unteroffizier bekommt einen Kopfschuss: „Da klickt sein Stahlhelm und lautlos sinkt er auf den Boden. Ich halte seinen Stahlhelm hoch, da läuft das Blut und Gehirn über mich in meine Rockärmel und Hände.“ Ein schneller Tod, aber „grausig zum Mitansehen“.

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Pius Mayer war ein ganz normaler deutscher Soldat. Einer wie 13,25 Millionen andere, von den rund zwei Millionen fielen. Pius schrieb in seinen Jahren an der Front mehr als 300 Feldpostbriefe an die Kellnerin Kathi. Sie liegen heute in der Bibliothek für Zeitgeschichte in Stuttgart, als Teil von deren Sammlung „Lebensdokumente“.

German troops in Armentieres, northern France, during the First World War. Date: April 1918 | Nur für redaktionelle Verwendung., Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
Deutsche Truppen rasten in der nordfranzösischen Stadt Armentieres, April 1918
Quelle: picture alliance / Mary Evans Pi

Jetzt haben Gerhard Hirschfeld, der langjährige Direktor dieser Spezialbibliothek, der Freiburger Weltkriegsexperte Gerd Krumeich und Irina Renz, Leiterin der Sammlung „Lebensdokumente“, einen Sammelband mit Hunderten Zeugnissen über das Jahr 1918 veröffentlicht.

Es war ein entscheidendes Jahr der deutschen Geschichte. Ende Januar 1918 zeigten Streiks vor allem in Munitionsfabriken und großen Städten, dass Deutschland kriegsmüde war. Es folgte der Versuch der Obersten Heeresleitung, nach dem oktroyierten Frieden von Brest-Litowsk die Entscheidung im Westen zu erzwingen, bevor die USA mit ganzer Kraft auf dem europäischen Kriegsschauplatz eingreifen konnten – das „Unternehmen Michael“. Es blieb stecken, im Kleinen wie von Pius Mayer geschildert, aber ebenso im Großen.

Immer noch ist umstritten, wie die strategische Lage der Mittelmächte im Sommer und Frühherbst 1918 war. Pikanterweise hat gerade Gerd Krumeich mit einer vorsichtigen Neuinterpretation der „Dolchstoß-Legende“ neues Interesse für das Jahr 1918 geweckt. Er wird darüber im Herbst ein eigenes Buch veröffentlichen; im Quellenband mit Hirschfeld und Renz spielt diese Sicht noch keine Rolle.

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Am selben Tag, an dem Pius Mayer seinen nachösterlichen Brief an Kathi schrieb, stellte Erich Ludendorff, als Erster Generalquartiermeister der Obersten Heeresleitung formal zweithöchster Soldat und faktisch so etwas wie Deutschlands Militärdiktator, das „Unternehmen Michael“ ein. Geraten hatte ihm dazu Georg Wetzell, der Chef seiner Operationsabteilung, ein hoch qualifizierter Generalstabsoffizier.

1918 – Schicksalsjahr für Deutschland und die Welt?

Was genau geschah alles 1918? Welche Belastungen und Chancen hatte dieses Jahr für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik? Liegt im Ende des Ersten Weltkriegs bereits der Grundstein für den Zweiten?

Quelle: phoenix

Nur auf den ersten Blick nämlich sah die Bilanz der Frühjahrsoffensive gut aus. Gewiss, die britische 5. Armee war mit ihren zwölf Infanterie- und drei Kavallerie-Divisionen sowie 1650 Geschützen, 119 Panzern und 357 Flugzeugen beinahe aufgerieben worden. In zwei Wochen hatten die deutschen Truppen bis zu 60 Kilometer in das tief gestaffelte Grabensystem des Gegners vordringen können.

„Die temporären taktischen Erfolge waren jedoch teuer erkauft worden“, urteilt der Militärhistoriker Gerhard P. Groß in seiner jüngst erschienenen Darstellung „Das Ende des Ersten Weltkriegs und die Dolchstoßlegende“. Die deutschen Verluste waren außerordentlich hoch. Am schwersten bei der 17. Armee, aber auch die 2. Armee, zu der Pius Mayers 114. Infanterie-Regiment gehörte. „Außergewöhnlich waren besonders die hohen Verluste an gefallenen Offizieren, da diese ,von vorne’ führten. Ihre Quote war doppelt so hoch wie die der Mannschaften“, schreibt Groß.

Men of the US Signal Corps, 4th Infantry, arriving at Brest, north western France, during the First World War. Date: April 1918 | Nur für redaktionelle Verwendung., Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
US-Soldaten gehen Anfang 1918 in Brest an Land
Quelle: picture alliance / Mary Evans Pi

Insgesamt summierte sich die Zahl von Toten, Verletzten und Vermissten auf rund 240.000 Mann, also jeden vierten eingesetzten Soldaten. „Einen vergleichbaren Blutzoll hatte die deutsche Armee nur in den ersten Kriegswochen 1914 entrichten müssen“, erinnert Groß. Tatsächlich lagen die Verluste bei den berüchtigten Materialschlachten wie Verdun oder an der Somme niedriger als im Bewegungskrieg.

Zwar hatten die britischen, französischen und belgischen Truppen noch etwas höhere Verluste hinnehmen müssen – aber ab April 1918 landeten nun Monat für Monat mehr als 200.000 US-Soldaten, ausgeruht, bestens ausgerüstet und gewillt, das Kaiserreich endgültig in die Schranken zu weisen. Das Schlüsseljahr 1918 ging weiter.

Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz (Hrsg.): „1918. Die Deutschen zwischen Weltkrieg und Revolution“. (Ch. Links Verlag, Berlin. 312 S., 25 Euro).

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