Für die Schönheiten der Reise hatte die Besatzung des Zeppelins „L 59“ („LZ 104“) keinen Blick. Am 21. November 1917 waren die rund 20 deutschen Soldaten vom bulgarischen Jambol auf ihre Mission gestartet – vom südlichsten Militärstützpunkt des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg. Die Luftschiffer hatten seitdem mit ihrem hoch fahrenden Transportschiff die europäische Türkei passiert, die Inseln Kos und Kreta, schließlich das östliche Mittelmeer, um von Norden her an der ägyptischen Küste über dem afrikanischen Kontinent einzuschweben. Landeplatz sollte das Makonde-Plateau im heutigen Tansania sein.
Dort kämpfte am Boden Paul von Lettow-Vorbeck, Kommandeur der deutschen Schutztruppe für Ostafrika, gegen Briten und Belgier. Seine Lage sah nicht gut aus. Seit Mitte Oktober setzte ihm der Gegner erheblich zu. Die Briten hatten in den Kämpfen mit 2700 Mann zwar mehr als die Hälfte ihrer Leute verloren, die Deutschen „nur“ 500, aber Lettow-Vorbecks Truppe war damit als geschlossene kampffähige Formation vernichtet. Nun war er mit Ausweichmanövern beschäftigt. Da seine Versorgung von der Küste aus und über Land durch die britische Nordseeblockade unmöglich geworden war, blieb nur der Luftweg.
Deutsch-Ostafrika, eine deutsche Kolonie
An Bord von „L 59“ befanden sich große Wasservorräte, 30 Maschinengewehre, 320.000 Patronen, Verbandsstoffe, Öl, Fernrohre, Buschmesser, Benzin (21.790 Kilogramm), Lebensmittel, Ersatzteile – zusammen mit der Besatzung eine Gesamtladung von knapp 50 Tonnen.
Das Ziel des Luftschiffes war genau definiert. Das war aber schon alles an Klarheit bei dieser Mission. Im Prinzip stand sie von Beginn an unter keinem guten Stern.
Eigentlich sollte die Fahrt bereits im Oktober mit dem Luftschiff „L 57“ („LZ 102“) beginnen, als die Frontlage für Lettow-Vorbeck noch günstiger aussah. Doch dann leistete sich „L 57“-Kommandeur Ludwig Bockholt einen unglaublichen Fauxpas: Voll beladen mit dem Material für Afrika, hatte der Kapitänleutnant trotz Sturm beim Luftschiffhafen Jüterbog noch einen Probeflug angesetzt. Doch sein Schiff wurde zu Boden gedrückt und die Steuerung beschädigt.
In einem Anflug von Selbstüberschätzung wies Bockholt die Mannschaft an auszusteigen, er würde den Rücktransport in die Halle allein bewerkstelligen. Als der Zeppelin von einer erneuten Böe hochgerissen wurde, gab Bockholt den Befehl, auf das Schiff zu schießen, damit es schneller Gas verliert. Das war völlig unnötig und endete, weil sich das Gemisch entzündete, mit dem Totalverlust von Schiff und Ladung.
Vier wertvolle Wochen verstrichen, um ein neues Schiff auszurüsten. Am 25. Oktober 1917 wurde dann „L 59“ in Dienst gestellt, am 30. Oktober stieg das Marineluftschiff erstmals zur Probe auf, am 3. November startete es Richtung Jambol. Die technischen Daten waren beeindruckend: 226,5 Meter lang, größter Durchmesser: 23,9 Meter. 16 Gaszellen mit einem Gesamtfassungsvermögen von 68.500 Kubikmeter Wasserstoff, fünf Maybach-Motoren zu je 240 PS, Höchstgeschwindigkeit: 103 Kilometer pro Stunde.
Trotz seiner Fehlentscheidungen wurde Kapitänleutnant Bockholt erneut mit dem Kommando betraut. Er galt als ehrgeizig und verwegen – so hatte er im April 1917 sein Luftschiff auf dem Wasser aufgesetzt und einen norwegischen Schoner gekapert, der Grubenholz für England transportierte. Daher sah die Marineführung wohl über seine Crashfahrt hinweg. Außerdem nahm er erfahrene Leute mit an Bord, etwa den Maschinenmaat Friedrich Engelke, der bei der Kaperung und in Jüterbog dabei gewesen war.
Gewieftere Kapitäne hatten die Mission abgelehnt. Nicht nur wegen des knappen Zeitplans. Sondern auch, weil eine Rückkehr von der Versorgungsfahrt nicht vorgesehen war. Die Besatzung sollte sich Lettow-Vorbeck anschließen, das Material des Luftschiffes für andere Dinge verwendet werden: die Außenhülle etwa für Zelte, das Aluminiumgerüst für Tragen und Baracken.
Die beiden ersten Versuche der Fahrt von Jambol nach Afrika wurden Mitte November abgebrochen: Bockholt musste einmal Wasser und einen Teil der Munition abwerfen, um überhaupt von der Halle freizukommen. Außerdem spielte das Wetter nicht mit. Beim zweiten Mal geriet die Besatzung versehentlich unter Feuer der verbündeten osmanischen Truppen. Um die schützende Höhe zu halten, warf sie Benzin und erneut Munition ab.
Am 21. November 1917 klappte es dann endlich. Doch schon am ersten Tag musste sich das Schiff durch Gewitter und starken Regen kämpfen. Ein Motor fiel mit Getriebeschaden aus, der ausgerechnet für die Funkanlage zuständig war – ein fataler Vorfall.
Denn bereits wenige Stunden nach Bockholts Starts hatte das Reichskolonialamt den Admiralstab informiert, dass angesichts der Bodenkämpfe in Ostafrika eine sichere Landung von „L 59“ nicht mehr gewährleistet sei. Man lehne jede Verantwortung ab. Die Marine stimmte zu, doch es misslang, „L 59“ den Befehl zur Rückkehr zuzustellen – die Funkverbindung kam einfach nicht zustande. Als die Monteure um Maat Engelke den Motor so weit repariert hatten, dass der Funkverkehr wieder lief, hatte das Schiff Afrika erreicht.
Der Sudan war bereits in Sicht, als endlich ein Funkspruch aus dem Deutschen Admiralstab eintraf: „Letzter Stützpunkt Lettow-Vorbecks, Revala, verloren gegangen. Ganzes Makonde-Hochland im Besitz der Engländer. Teile Lettows gefangen. Rest nördlich hart bedrängt. Sofort umkehren!“
Das war ein Schock für die Truppe, die von der Fahrt und dem ungewohnten Wüstenklima zermürbt war. Doch was sollte sie machen. Die Männer drehten um, wobei ihr Schiff durch Abwinde gefährlich Richtung Wüstenboden gedrückt wurde, und schwebten auf gleichem Weg zurück. In den Morgenstunden des 25. Novembers 1917 erreichte der Zeppelin wieder den Ausgangsplatz Jambol. Der Frust während der Fahrt war vergessen, Maschinenmaat Engelke und die anderen posierten stolz in Tropenuniform.
Ungewollt stellte die Besatzung mit ihrer Fahrt einen Langstreckenrekord auf: mit 95 Stunden und fünf Minuten bei einer Strecke von fast 6800 Kilometern. „L 59“ galt damit als das effizienteste jemals gebaute Transportluftschiff auf weiten Strecken und zusammen mit „L 57“ als das größte Luftschiff im Ersten Weltkrieg.
Doch sein eigentliches Ziel hatte der Zeppelin verfehlt. Und damit auch alle Hoffnungen der deutschen Führung, die sich von dieser Fahrt einen militärischen Vorteil versprochen hatte, eine psychologische Wirkung auf die eigene Bevölkerung, auch Bewunderung durch die Afrikaner und Kolonialtruppen.
Die Marine ließ „L 59“ nach der Rekordfahrt für den weiteren Kriegseinsatz umrüsten. Eine von Bockholt vorgeschlagene Wiederholung der Mission hatte sie abgelehnt. Der Zeppelin wurde nun für Angriffe im Nahen Osten und über Italien eingesetzt, etwa zur Bombardierung des Hafens und der Industrieanlagen von Neapel.
Sein letztes Ziel wurde ein britischer Flottenstützpunkt auf Malta. Auf dem Weg dahin stürzte „L 59“ am 7. April ins Mittelmeer. Nach Aussagen der Besatzung des deutschen U-Bootes „U 53“, das zufällig in der Nähe war, explodierte das Schiff einfach in der Luft. Niemand von der Besatzung überlebte.
Vom spektakulären Einsatz über Afrika erfuhr die deutsche Zivilbevölkerung erst nach dem Krieg 1919 durch eine Werbeanzeige der Maybach-Werke, die sich mit Verweis auf die Rekordfahrt selbst feiern wollten. Dass einer ihrer wichtigsten Motoren ausgefallen war, wurde verschwiegen.
Die Anzeige erregte Aufsehen und veranlasste das Reichsmarineamt, nun doch die Öffentlichkeit zu unterrichten. Das war wegen der Geheimhaltung – und des Misserfolgs unterblieben. Etwa zeitgleich erschien in der „Deutschen Kolonialzeitung“ ein Aufsatz von Maximilian Zupitza über die Expedition.
Von dem Oberstabsarzt, vor 1914 leitender Mediziner der Westafrika-Station, war die Idee für den Einsatz überhaupt erst gekommen. Zu Kriegsbeginn in Togo interniert und 1916 auf Ehrenwort ausgetauscht, hatte er in einer Zeitung zufällig etwas über Fernflüge von Luftschiffen gelesen. Zupitza wandte sich ans Militär und schlug vor, so eine Fahrt für die ostafrikanischen deutschen Truppen zu prüfen. Die Experten befanden: „Schwierigkeiten nicht unüberwindbar.“
Mit Bekanntwerden der Geschichte blühten auch die Gerüchte. Die Briten seien durch Spione vorab über die Luftschifffahrt informiert gewesen. Daher hätten sogar Flugzeuge zum Abschuss bereitgestanden. Tatsächlich war die Mission, zur Tarnung „China-Fahrt“ genannt, Gesprächsstoff im Militär – sehr zum Unmut der Verantwortlichen. So wurde der Sohn eines Kapitäns in Friedrichshafen auf der Straße darauf angesprochen. Auch in Konstantinopel oder im Deutschen Offizierskasino in Sofia redete man darüber.
So war es kein Wunder, dass der britische Navy-Geheimdienst Wind davon bekam. Als der gut informierte Dienst Anfang November den festgenommenen Kommandanten von „L 45“, Kapitänleutnant Waldemar Kölle, verhörte, staunte der Deutsche nicht schlecht, dass sein Gegenüber das gesamte Luftschiff-Offizierskorps mit Namen kannte, über die Zerstörung von „L 57“ informiert war und von Kölle wissen wollte, wie er Bockholt einschätze.
Britische Militärhistoriker verbreiteten damals gern, dass London den Feind an der Nase herumgeführt hätte. Dass eigentlich die Briten den Rückkehrbefehl gesendet hätten. Dass sie dem deutschen Admiralstab falsche Informationen über die militärische Lage in Ostafrika zugespielt hätten, damit er das Schiff zurückbefahl.
Deutsche Autoren übernahmen dies anfangs. So konnten sie die Dolchstoßlegende befeuern und den Heldenstatus des „vom Feind unbesiegten“ Lettow-Vorbeck erhalten. Am Ende drehte „L 59“ wohl vor allem um, weil die Mission gescheitert war, meint Karl-Wilhelm Schäfer, ein Kenner der Geschichte.
Lettow-Vorbeck selbst bezweifelte im Nachhinein, dass „L 59“ ihn überhaupt gefunden hätte. Er sei doch längst weitergezogen gewesen. Und da er über die Fahrt nicht informiert war, hätte er keine Vorbereitungen treffen können, sich kenntlich zu machen. Seiner Ansicht nach erfolgte die Fahrt sowieso viel zu spät.
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