Article from wbw 6–2024

Sesam, öffne dich!

Das Sammeln und Collagieren als Aneignungstechnik und Arbeitsweise von Rudolf Olgiati

Christa Vogt

Rudolf Olgiati (1910 – 95) sammelte Werkzeug, Tische, Türen, aber auch Bilder und Fotografien. Der Umgang mit diesen Objekten prägte sein Denken und Arbeiten entscheidend. Ihr wohlüberlegter Einsatz in seinen Entwürfen reichert diese an und scheint vor dem Hintergrund des aktuellen Diskurses über Wiederverwendung besonders aktuell.


Wie es damals etwa in Heimatschutzkreisen häufig zur Kulturwahrung gehörte, begann auch Olgiati nach seiner Studienzeit in Zürich Mitte der 1930er Jahre damit, historische bündnerische Bauteile und Objekte zu tauschen und zu kaufen, woraus bald eine umfangreiche Sammlung mit zuletzt mehreren tausend Objekten erwuchs.1 Er selbst bezeichnete sich dabei jedoch nur als «Magaziner», der Gegenstände über eine schlechte Zeit rettete, bevor sie später idealerweise wieder möglichst nahe an ihren Ursprungsort zurückgebracht werden sollten.2


Für die Systematisierung und Inventarisierung seines Sammelguts war Olgiatis Mitarbeit an dem 1942 lancierten staatlichen Arbeitsbeschaffungsprogramm für die «Bauliche Sanierung von Hotels und Kurorten » prägend.3 Mit den lokalen Gegebenheiten vertraut, wurde ihm die Bestandsaufnahme der Hotels im Kurort Flims übertragen. Er begann damit, Alben mit Bestandsplänen, kubischen Berechnungen und Aufnahmen der Fassaden und Innenräume zusammenzustellen. Dabei beliess es Olgiati aber nicht. Er dokumentierte weiter: Holzbauten und herrschaftliche Patrizierhäuser des Dorfs mitsamt Detailaufnahmen der handwerklichen Konstruktionen und Notizen zu deren Geschichte, dem baulichen Zustand und den Besitzern. Gleichzeitig tauschte und kaufte er in Flims rege alte Alltagsgegenstände für seine Sammlung, darunter Schränke, Truhen, Türblätter, Tische, Stabellen sowie Töpfe, Krüge, Werkzeug und bäuerliches Gerät.


Mit der Anfrage zur Mitarbeit im Arbeitsprogramm des Bundes gab Olgiati 1944 Wohnsitz und Architekturbüro in Zürich auf und richtete sich dauerhaft in seinem von der Mutter geerbten Haus in Flims ein. Der Stall nebenan stand leer; ideal, um seine Sammlung aufzubewahren. Einige Objekte gehörten immer auch zur Wohnungseinrichtung, dementsprechend eng waren sie mit seinem alltäglichen Leben verbunden.


Ins Inventarisieren investierte Olgiati viel Zeit, füllte ganze Ordner mit möglichst genauen, wenn auch unvollständigen, Informationen zu Geschichte, Herkunft und Besitzern. Die «Flimser Alben» stellen ein Inventar der ganzen gewachsenen Flimser Kulturlandschaft dar. Sie zeigen die Natur als Erholungs- und Sportraum, Flora und Fauna, das bäuerliche Leben, Populärkultur und immer wieder prächtige Gipfelpanoramen. Solche Bildersammlungen erstellte damals auch der Heimatschutz – in erzieherischer Absicht. Sie schärften das Bewusstsein für die tiefgreifenden Veränderungen von Landschafts und Ortsbildern seit Beginn der Industrialisierung und des Tourismus. Gleichzeitig sollten sie – durch den Blick zurück auf die Architektur vor dem Stilpluralismus des Historismus – den Weg für eine künftige bauliche Verbesserung ebnen.


Eine erste theoretische Grundlage seiner Architektur legte Olgiati also nicht nur durch eine intellektuelle Aneignung von Geschichte und Architekturtheorie, sondern durch eine auf visuellen Kriterien beruhende Auseinandersetzung mit seinem vielfältigen Sammelgut. Bald fing er auch damit an, Bilder aus seinem Fundus nach optischen Themen geordnet – zum Beispiel Prismen und Pyramiden, Kuben oder Farben – collageartig zusammenzustellen und so nach Vorbildern und Mustern für das eigene Entwerfen zu suchen.


Vom Sammeln übers Ausstellen zum Collagieren

Nach 1945 blickte man wieder vermehrt über die Landesgrenzen hinaus auf das internationale Architekturgeschehen. Moderne Architekten beschäftigten sich zunehmend mit dem anonymen, vernakulärem Bauen, während die Idee eines vereinigenden ästhetischen Formenvokabulars im «International Style» kaum noch diskutiert wurde. Der Architekturhistoriker Sigfried Giedion führte 1954 dafür den Begriff des «Neuen Regionalismus » ein, denn der moderne Architekt habe gelernt, «dass er zuerst und zuvorderst die Lebensgewohnheiten, das Klima, man möchte sagen, fast ehrfurchtsvoll zu studieren hat, ehe er ans Entwerfen geht.»4 Die «Volkskunst» der Schweiz und anderer Länder stiessen in jenen Jahren nicht nur in Architektenkreisen, sondern bei einer breiten Öffentlichkeit auf Interesse. Nachdem das Kunstgewerbemuseum in Zürich Ausstellungen zu Skandinavien, zur «Rumänischen Volkskunst» (1943) und zur «Volkskunst aus Jugoslawien» (1949) gezeigt hatte, folgte 1955 die Ausstellung «Volkskunst aus Graubünden», in der einige Leihgaben aus der Sammlung Olgiatis stammten.


Obwohl er in den ersten Nachkriegsjahren einige kleine Aufträge erhielt, unter anderem von Besuchenden dieser Ausstellung, die seine Liebe zum Sammeln teilten, musste er sich nach weiteren Einnahmequellen umsehen. Also begann er, ein grosses, ererbtes Grundstück im noch weitgehend unerschlossen Gebiet Prau las Caglias in Flims-Unterwaldhaus baulich zu entwickeln. Sein Bruder Guido und sein Schwager Hans Zellweger unterstützten ihn dabei, das Ferienhaus La Hoia 1951 nach eigenen gestalterischen Vorstellungen zu bauen. Es diente als Musterhaus und sollte potenziellen Auftraggebern Olgiatis Architektursprache veranschaulichen. Prägend für La Hoia sind die weiss gekalkten Mauern. Diese werden zu einem charakteristischen Merkmal seiner Architektur, genauso wie das Trichterfenster, der Korbbogen, das Steinplattendach. Zentral ist auch der Einsatz von Spolien, aus einem anderen Kontext stammenden Bauteilen. Mit der richtigen Mischung aus rustikalen und modernen Motiven gelingt Olgiati ein Musterbau, der alle pittoresken Versprechen eines Ferienhauses in den Bergen der frühen 1950er Jahre erfüllt.

Geborgene Innenwelt des Sesam

Im Innern des Hauses La Hoia folgt auf den Windfang, durch einen Bogen getrennt, eine kleine Halle, fensterlos und dunkel. Um sie herum gruppieren sich, wie in alten Bündner Häusern, einzelne Raumzellen: Schlafkammern, Bad und Küche. Das Wohnzimmer betritt man durch eine alte, niedrige Tür aus Olgiatis Fundus, so dass man die Füsse über den Sockel anheben und zugleich den Kopf einziehen muss, woraufhin «man vom grossen Wohnzimmer um so mehr überrascht sein wird», wie Olgiati seinem Bruder Guido schreibt.5


Der Blick fällt zuerst auf die um die offene Feuerstelle angeordnete Sitzgruppe. Über eine grosse Öffnung und den vorgelagerten Sitzplatz weitet sich der Raum in den Garten hinaus, ganz ähnlich der Grundrissanlage eines modernen englischen Landhauses. Analog gliedert Olgiati zwei weitere Zimmer – die Küche und eine Schlafnische – als Alkoven an den Hauptraum an, verbunden durch einen Vorhang und eine Doppelflügeltüre. Die Bogenöffnung zur Schlafnische ist bis an den Rand der Mauer geschoben, so dass sich die Raumbeziehungen von einem additiven Prinzip, das im hinteren Bereich des Hauses gilt, hin zu einem offeneren verändert. In der diagonal gegenüberliegenden Ecke heben drei Öffnungen, die nur von einer dünnen Stütze getrennt und so über Eck geführt sind, den Blick hoch auf das Segnesmassiv. Die Ausblicke und Durchblicke in der Diagonalen stehen in einem Kontrast zu den drei ruhigen Plätzen – dem Feuerplatz, dem Essplatz und dem Arbeitsplatz.


Rudolf Olgiati bezeichnete die Innenräume seiner Bauten als «Sesam» und schuf damit die Vorstellung eines kostbaren, privaten Raums der Geborgenheit, der gegen die unwirtliche Aussenwelt durch eine Mauerschale geschützt werden muss.6 Die Mauern selbst sind allerdings nicht dick, sie erscheinen nur so. So ist zwischen dem Wohnzimmer und der Küche die Treppe ins Obergeschoss eingebaut, wodurch «eine Art Tunnel» entsteht, «um die Kochwand in die richtige Perspektive zu rücken».7 Sonst sind es meist Mauerwinkel, die auf ihrer Rückseite Nischen für Schränke oder Büchergestelle verbergen. Die Entwicklung der Grundrisse in die Tiefe beruht auf modernen Theorien der Raumgestaltung, die Olgiati kennt und nutzt, um die kleinen Wohnräume grösser erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich sind. So erklärt der deutsche Kunsthistoriker August Schmarsow, dass mit der Diagonalen «die zweite Dimension mit der dritten» vertauscht und damit «die Breite […] zur Tiefendistanz [wird], sowie sich mit ihr die Bewegungsvorstellung des vordringenden Blickes verbindet».8 Schmarsows Ansatz erinnert an eine Vorstellung des Zeitgenossen Lois Welzenbacher vom «Bewegungsrhythmus», wobei sich die Landschaft «beim Durchschreiten der Räume […] in ständig wechselnden Ausschnitten [darbietet]».9


Dass das Innere des Hauses sich mit dem Raum der Natur verbindet, stellt auch bei Olgiati eine wesentliche Idee im Entwurfsprozess dar. Die wichtigste Verbindung zur Umgebung ist der – unbedingt ebenerdige – Übergang vom Wohnraum über den Sitzplatz zur Rasenfläche, die sich «wie ein Teppich» ausbreitet, «bevor die Natur beginnt».10 Zur räumlichen Verschränkung tragen ebenso die plastisch ausgebildeten, weiss gekalkten Wände bei, die aussen wie innen gleich behandelt sind. Dabei verbirgt der einheitliche Verputz jede Spur der materiellen Realitäten des Baus. Collageartig integriert Olgiati in diese weissen Wände historische Türen und Schränke, Kästchen und Bilder sowie Fenster mit überraschenden Panoramaausblicken. Seine Kompositionen beruhen dabei auf formalen Regeln, die an die Prinzipien der «Gleichgewichtigen Gestaltung» der Gruppe de Stijl erinnern: Die Elemente sind untereinander rechtwinklig angeordnet, aber nie auf einer Achse. Auf Symmetrie wird verzichtet, und alles ist durch Kontraste bestimmt.11


Die Art, wie die alten, bäurischen Bauteile und Bilder vor weissem Hintergrund platziert sind, weckt auch Assoziationen an kubistische Collagen etwa des jungen Pablo Picasso oder von Georges Braques – die sich beide in ihren Ateliers mit fremden, inspirierenden Sammlungsobjekten umgaben und in ihren Kompositionen durch das Nebeneinander unzusammenhängender Elemente unterschiedlichen Materials befremdende und überraschende Effekte erzielten.


Atmosphäre, die glücklich macht

Auch wenn Olgiati zeitlebens betonte, dass die gesammelten Gegenstände möglichst nahe an ihren Ursprungsort zurückgebracht werden sollten, so scheint ihr historischer Kontext in den Neubauten kaum noch von Belang. Er setzte sie bei seinen Häusern im Unterland genauso ein. Mit seinen Auftraggebern legte er von Anfang an fest, wo die Sammlerstücke aus dem eigenen oder dem Fundus der Bauherrschaft ihren Platz finden sollten, und passte sie falls nötig an. Die Spolien verliehen den Häusern einen persönlichen Charakter, erinnerten an die eigene Familiengeschichte oder an eine intakte Heimat.


In Olgiatis collagierten Kompositionen erhalten all die «schönen Dinge»12 eine neue Bedeutung und sollen in einem unmittelbaren Spannungsverhältnis zueinander stehen, um damit die «Gefühle» der Menschen anzuregen, so «dass man diese günstige Atmosphäre hat, in der man wirklich leben kann, […] die den Menschen fördert, die auch seine Fantasie anregt, wo genügend Spannung drin ist, das Gegenteil von allem Dumpfen […], die ihn einfach glücklich macht».13


Durch ihren universellen Einsatz als Spolien löste Olgiati den Bezug der Objekte zu einem konkreten Ort oder einer Epoche. Dass angesichts dieses Umgangs mit Bautraditionen sein Werk unter dem Begriff eines Regionalismus der Nachkriegszeit diskutiert wird, ist naheliegend, aber einseitig. Viele Aspekte seiner Bauten beruhen auf modernen Vorstellungen der Raumgestaltung, insbesondere in der Art, wie die innere Raumorganisation mit der sie umgebenden Landschaft im Austausch steht. Eng damit verknüpft sind das Sammeln und die Collage als Arbeitsmittel. Erst das Zusammenwirken fundierter Kenntnisse der Geschichte einerseits und zeitgenössischer Prinzipien der Gestaltung anderseits erlaubte es Olgiati, eigenständig zu werden. In seinem Werk sind diese Einflüsse zu einem kontrastreichen, aber stimmigen Ganzen gefügt. Das verleiht seinem Schaffen auch für die aktuelle Architekturdiskussion eine besondere Bedeutung.

Christa Vogt (1974) arbeitet als Architektin in Praxis, Lehre und Forschung. Von 2012 bis 2021 war sie Dozentin für das Wahlfach «Meisterkurs Konstruktion» an der ETH Zürich. Ihre Dissertation trägt den Titel «Ferienhäuser im Austausch mit der Landschaft – Rudolf Olgiatis Frühwerk» und wurde im Sommer 2023 angenommen.

1 Seit Olgiatis Tod wird die Sammlung von der Flimser Olgiati-Stiftung betreut. Unter der Leitung der Ethnologin Marianne Fischbacher wurden Olgiatis umfangreiche Inventarlisten vereinheitlicht, ergänzt und in eine Datenbank eingespeist. Vgl. Marianne Fischbacher, Inventar der Kulturgütersammlung von Arch. Rudolf Olgiati. Schlussbericht, Schluein 2002.
2 Rudolf Olgiati, «Alte Möbel», in: Thomas Boga (Hg.), Die Architektur von Rudolf Olgiati, Zürich 1977, S. 280.
3 Ziel der umfangreichen Kampagne waren sowohl die Festlegung ortsplanerischer Richtlinien als auch konkrete bauliche Sanierungsvorschläge für 35 ausgewählten Kurorte. Mit den ortsplanerischen Aufgaben betraute man erfahrene Architekten aus allen Grossregionen der Schweiz, während die Inventarisierung meist an ortsansässige Architekten vergeben wurde. Siehe Armin Meili (Hg.), Bauliche Sanierung von Hotels und Kurorten. Schlussbericht, Erlenbach 1945.
4 Sigfried Giedion, «Worin besteht der neue Regionalismus?», in: Architektur und Gemeinschaft; Tagebuch einer Entwicklung, Hamburg 1956, S. 87 – 92, hier S. 88 – 9.
5 Rudolf an Kil (Guido) Olgiati, Flims, 16. Juli 1951, Ordner V. 15, Nachlass Rudolf Olgiati.
6 Der Begriff des «Sesam » kommt im Ordner «Architekturtheorie» an verschiedenen Stellen vor, Nachlass Rudolf Olgiati.
7 Brief von Rudolf Olgiati an seinen Bruder Guido, Flims, 16. Juli 1951, Ordner V. 15, Nachlass Rudolf Olgiati.
8 August Schmarsow (1853 – 1936), Über den Werth der Dimensionen im menschlichen Raumgebilde, Leipzig 1896, S. 53.
9 Lois Welzenbacher (1889–1955), «Wohnen im geöffneten Raum», in: August Sarnitz, Lois Welzenbacher, Architekt, 1889 – 1955, Salzburg 1989, S. 171.
10 Interview mit Margrith und Heini Hofmann sowie Christine Oschwald, Flims, 1. November 2019.
11 Vgl. Piet Mondrian, Neue Gestaltung: Neoplastizismus, Neue Bauhausbücher, Mainz 1974, und Theo van Doesburgs Manifest «Auf dem Weg zu einer plastischen Architektur» (1924), in: Ulrich Conrads, Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts: Bauwelt Fundamente 1, München 1964.
12 Werbe-Broschüre zum Apartmenthaus Las Caglias und zur benachbarten Casa Radulff (ca. 1973): «Man betritt ein Haus, in dem es lauter schöne Dinge gibt», Nachlass Rudolf Olgiati.
13 Ueli Schäfer, «Interview mit Rudolf Olgiati», in: Bauen + Wohnen, 7/8 – 1978, S. 302 – 3, hier S. 303.

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