Article from wbw 6–2024

Auf Augenhöhe mit dem Regenwurm

Zwei Ausstellungen zur Landschaft in Kriens

Roland Züger

Schon auf dem Weg zur Ausstellung kommt man unweigerlich am ersten Exponat vorbei: dem Bellpark im Zentrum von Kriens. In diesem grünen Kleinod steht die alte Villa, in der die beiden Ausstellungen gezeigt werden.

Derart vorbereitet, taucht man schon in der Eingangshalle der Villa in die Schau ein, konkret vor einem grossformatig gezeichneten Querschnitt durch den Boden unter einem ausladenden Baum (den man gerade noch im Park gesehen hat?). Gezeichnet vom Büro Inside / Outside der Niederländerin Petra Blaisse, gleicht die Darstellung einem Wimmelbild. Weit verzweigte Gänge des Regenwurms umschlingen die Baumwurzeln, wie bei einem Tango. Angesichts der Klima- und Biodiversitätskrise sind es genau diese Perspektiven in die Welt der Tiere, die uns heute zum Verständnis fehlen, so die Grundthese der Ausstellung. Deren Lebensräume sind kaum sichtbar, winzig klein, und liegen unter der Erde. Unter unseren Füssen ist bekanntlich mehr Biodiversität anzutreffen als über der Erde. Deswegen gilt es dem Boden, seinem Aufbau und der Mitbewohnerschaft darin Sorge zu tragen.


Mehr Raum für Baumwurzeln planen

Was einfach klingt, ist in der Praxis schwierig umzusetzen. Wurzeln brauchen Raum, um sich zu entwickeln. Dieser Platz ist oft nicht vorhanden – gerade in der verdichteten Stadt von heute: ein klassischer Zielkonflikt der Raumplanung. Auch die Politik hat ihn kaum auf dem Radar – man denke an die kürzlich weichgespülte Revision des kantonalzürcher Baugesetzes, bei der die Begrenzung der unterirdischen Bauten wieder aus dem Gesetz genommen wurde. Denkt man ernsthaft über eine hitzeresistente Freiraumgestaltung nach, muss man an diesen Stellen ansetzen. Dafür ist aber eine andere Wahrnehmung nötig.


Landschaftsthemen besser sichtbar machen

Hier streut die Ausstellung ihre Samen aus: Die Anliegen der Landschaftsarchitektur sollen sichtbarer werden. Die Schau, kuratiert von der Basler Landschaftsarchitektin Céline Baumann zusammen mit Myriam Treiber, versammelt acht zeitgenössische Positionen zur Landschaftsarchitektur, statt eine eigene Werkschau zu präsentieren. Nach solchen monografischen Ausstellungen von Sergison Bates, Sauter von Moos und Loeliger Strub ist nun die Landschaftsarchitektur an der Reihe: ein starkes Statement von Hilar Stadler, Leiter des Museum Bellpark, der die Ausstellung zusammen mit dem Architekten Gerold Kunz initiiert hat.


Baumann und Treiber stellen die Schau unter das Motto der Ramification (deutsch: Verästelung) und zeigen ihre Auswahl an Exponaten auf drei Etagen, die unterschiedlichen Massstäben der Landschaft entsprechen. Im Untergeschoss sind Projekte aus der Lehre von Baumann als Gastprofessorin für Landschaftsarchitektur an der ETH Zürich zu sehen. Im Raum nebenan läuft Cyril Verriers Film «La Frontière» von 2023. Darin begleitet er eine Biologin über ein Schulgelände, das mit zahlreichen Pflanzen, Stauden, Hecken und neuen Bäumen umgestaltet wird. Durch die Mitarbeit der Kinderschar gewinnt sie Einblicke, welche sinnlichen Qualitäten ein biodiverser Freiraum birgt oder was Unterhalt und Pflege bedeuten.


Im Erdgeschoss findet sich neben dem eingangs erwähnten Wimmelbild eine umfangreiche Zeichnungssammlung von Pflanzen. Auch hier stechen die vielfältigen Wurzeln in den Blick, gezeichnet am Lehrstuhl der katalanischen Landschaftsarchitektin Teresa Galí-Izard an der ETH Zürich. Mittendrin hängt ein eigens von Baumann angefertigter Vorhang. Als Motiv ist darauf der Grundriss der Wurzel einer Schwarzkiefer zu sehen, wie sie auch mit dem Blick durchs Fenster in den Park zu erhaschen ist. Dessen Bäume werden dadurch zu Exponaten der Schau.


Landschaft im Grossmassstab gestalten

Die Treppenstufen ins Obergeschoss begleitet das Kartenwerk des Mississippi und zeigt den Fluss als Palimpsest. Von der Armee beauftragt, hat der Geologe Harold N. Fisk den Strom 1944 mitsamt seinen historischen Verläufen (beispielsweise der einjährigen Überschwemmung 1926) kartografiert. Die eindrucksvolle Überlagerung der bunten Mäander fängt die unterschiedlichen Zeiten ein und demonstriert die Kräfte, die bei grossen Infrastrukturen am Werk sind.


Die Beletage der Villa ist den Arbeiten im grösseren Massstab gewidmet. Hier sticht ein grossformatiges Landschaftsmodell der Umgebung von Paris ins Auge. Zerschnitten von Infrastrukturtrassen, von Autorouten, Zuglinien und den Landepisten der Flughäfen, sollen die Eingriffe der Gruppe Altitude 35 wieder Kohärenz schaffen. Sie schlagen Baumalleen entlang von Strassen vor, forsten Wälder auf und renaturieren Flussläufe, um der Landschaft wieder mehr Kontinuität zu verleihen. Solche Korridore sind auch für Tiere wichtig. Von Paola Viganò sind drei Arbeiten aus belgischen Städten zu sehen, die ihr Mailänder Planungsbüro jüngst bearbeitet hat. Und von Martina Voser von mavo Landschaften sieht man die Arbeit am inneren Garten des Neubauquartiers in Zürich-Leutschenbach (wbw 12–2021, S. 13 – 19). Allesamt sind es sinnliche Lehrstücke zur blau-grünen Infrastruktur, die vorbereitet sind, es mit zukünftigen Starkregen und Hitzesommern aufzunehmen. Wie mit Infrastrukturen der Moderne umgegangen werden kann, ohne sie durch ein neues Paradigma zu ersetzen, zeigt die eindrucksvolle Renaturierung der Aire, des Flüsschens südlich von Genf. Den schnurgeraden alten Kanal hat das Gestalterteam von ADR mit Georges Descombes (2001 – 22) um ein rautenförmig verästeltes neues Flussbett erweitert. In einem Film wird eindrucksvoll erfahrbar, wie der vielgliedrige Strom sich nun den Weg bahnt, der alte Kanal nebenan aber als Wegstrecke erhalten bleibt.


Vogelzwitschern im Dach

Das Dachgeschoss ist einer zweiten Ausstellung gewidmet: den Aquarellen von Lucius Burckhardt. Der Basler Soziologe gründete die sogenannte «Spaziergangswissenschaft» und war ein einflussreicher Theoretiker der Landschaft und ihrer Wahrnehmung. So hängen in zwei abgedunkelten Sälen die zwischen 1970 – 95 gemalten Aquarelle Burckhardts, die einst an der documenta 14 in Kassel zu sehen waren. Begleitet durch zahlreiche Fotos von seinen Spaziergängen und Aktionen im öffentlichen Raum, lässt sich die damalige Zeit imaginieren. Das Vogelzwitschern im Raum ist ein Hinweis, dass der Landschaftsbegriff stark von eigenen Vorstellungen geprägt ist – ein Augenzwinkern, das die für einmal sehr museale Präsentation in der Villa im Bellpark auflockert.

Ramification. Zeitgenössische Landschaftsarchitektur
36 Landschaftstheoretische Aquarelle von Lucius Burckhardt

bis 7. Juli 2024
Museum Bellpark Kriens
Luzernerstrasse 21, 6011 Kriens
www.bellpark.ch
Mi – Fr 14 – 17 Uhr, Sa – So 11 – 17 Uhr

Publikation
Lucius Burckhardt: Landschaftstheoretische Aquarelle und Spaziergangswissenschaft
Noah Regenass, Markus Ritter, Martin Schmitz (Hg.)
Martin Schmitz Verlag, Berlin 2017
400 Seiten, 268 Abbildungen
17 × 24.5 cm, gebunden
ISBN 978-3-927795-75-4
CHF 42.— / EUR 35.—

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