Bei der Berliner Essensliefer-Plattform Delivery Hero weiß man die Beobachter zu verwirren. Jahrelang versprach Mitgründer und Vorstandschef Niklas Östberg Wachstum um jeden Preis – und lieferte. Auf dem Höhepunkt sprang der Umsatz innerhalb eines Jahres, von 2020 auf 2021, getrieben durch Corona-Effekte von 2,8 Milliarden auf 6,4 Milliarden Euro. Doch kurz danach stiegen die Zinsen – und die Stimmung unter Investoren drehte sich. Nun war Profitabilität statt Wachstum gefragt.
Und Östberg? Redet seitdem das Erreichen der Gewinnschwelle sehr vehement herbei. Der Konzern veröffentlicht aber lediglich ein „bereinigtes Ebitda“, aus diesem Wert kann man alles mögliche Belastende herausrechnen. Auch wenn diese Zahl also nur sehr begrenzt aussagekräftig ist: Im vergangenen Geschäftsjahr war sie mit 254 Millionen Euro erstmals positiv. Blo��: Wie diese Entwicklung, die jüngsten Zahlen und die weiteren Perspektiven von Delivery Hero zu deuten sind, dazu herrscht bei Investoren und Beobachtern an diesem Mittwoch eine Stimmungslage vor: Konfusion.
Nicht wenige Aktionäre könnten es daher auf der diesjährigen Hauptversammlung mit dem US-Investor Sachem Head halten, dessen Einstieg bei Delivery Hero im April bekannt geworden ist und der vor kurzem seinen ersten Erfolg feierte. „Die Gesellschaft wird der Hauptversammlung 2024 vorschlagen, den Aufsichtsrat von sechs auf acht Mitglieder zu erweitern“, teilte Delivery Hero Ende April mit. Der New Yorker Investor hält rund 3,6 Prozent – und forciert auch gleich Veränderungen im Konzern. Einem Bloomberg-Bericht von Anfang April zufolge sehe Sachem Head „Schwächen im Betrieb und beim Aktienkurs“ der Berliner Plattform. Wenig verklausuliert brachte ein Insider in Umlauf, Sachem-Head-Gründer und -Portfoliomanager Scott Ferguson strebe neben dem Sitz im Aufsichtsrat auch eine Ablösung von CEO Östberg an.
Auf Nachfrage will sich Sachem Head nicht dazu äußern. Aber es bleibt festzuhalten: Das erste ihm unterstellte Ziel erreicht Ferguson nun wohl. Der Delivery-Hero-Aufsichtsrat wird der Hauptversammlung unter anderem Ferguson als neuen Kandidaten vorschlagen, „als vierten Anteilseignervertreter“.
Eine Person, die mit der Angelegenheit vertraut ist, sagte: „Die Investorenbasis ist insgesamt recht unzufrieden mit dem Delivery-Hero-Aktienkurs. Dass künftig mit Scott Ferguson die Sicht des Kapitalmarkts im Aufsichtsrat stärker vertreten ist, ist sicher nicht ganz verkehrt.“
Dafür benötigt Ferguson freilich auch den Segen der anderen Großaktionäre. Wichtigster von ihnen ist die niederländische Beteiligungsfirma Prosus mit gut 25 Prozent, hinter dem unter anderem der südafrikanische Start-up-Investor Naspers steht. Ferner hält der schottische Investmentfondsanbieter Baillie Gifford ein großes Aktienpaket zwischen fünf und zehn Prozent. Auf WirtschaftsWoche-Nachfrage sagte ein Naspers-Sprecher: „Wir unterstützen die vorgeschlagenen Änderungen im Aufsichtsrat voll und ganz.“ Baillie Gifford wollte sich nicht dazu äußern.
Versucht Östberg den Investor ruhigzustellen?
Interessant war ferner ein Satz, der im Zusammenhang mit Fergusons Aufsichtsrats-Vorhaben auftauchte: Bezogen auf die Kandidatur, so formulierte es Delivery Hero in jener Mitteilung von Ende April, „haben die Gesellschaft und Sachem Head einen Kooperationsvertrag abgeschlossen, der übliche Stillhalte- und Vertraulichkeitsbestimmungen enthält“. Nähere Details zu den Inhalten dieses Vertrags teilte Delivery Hero nicht mit.
Die Interpretation dieser Klausel liegt auf der Hand: Niklas Östberg dürfte den aufmüpfigen Scott Ferguson fürs Erste ruhigstellen wollen durch den gewünschten Sitz im Aufsichtsrat. Auf Nachfrage wollte sich Sachem Head im Vorfeld der Hauptversammlung nicht äußern.
Bei Delivery Hero versuchen sie derweil, die Kontroverse herunterzuspielen. „Klappern gehört auch zum Geschäft. Ich würde das nicht zu hoch hängen“, kommentiert ein Kenner des Hauses die Rücktrittsforderungen an den CEO, „Niklas Östberg geht damit professionell um.“ Und dass die Aktienkursentwicklung niemanden zufriedenstelle, sei auch kein Geheimnis. Es sei Delivery Hero im Übrigen keine spezifische oder gar radikale Forderung von Sachem Head bekannt, „das Ziel ist bei allen gleich: Profitabilität.“
Delivery Hero bereinigt sein Portfolio
Doch unabhängig vom Sachem-Head-Einstieg intensiviert Delivery Hero seit Längerem seine Bemühungen, profitabel zu werden. Man schaue sich alle Länder genau an, sagt ein Insider. Wo es keine Aussicht auf Marktführerschaft gebe, werde ein Verkauf sondiert – oder, falls sich kein Käufer findet, das Geschäft beendet.
Dazu passen die in der jüngeren Vergangenheit bekannt gewordenen Entscheidungen. Im September 2023 meldete die WirtschaftsWoche exklusiv, dass Delivery Hero den Verkauf seiner Aktivitäten unter der Marke Foodpanda in den Ländern Singapur, Kambodscha, Malaysia, Myanmar, Philippinen, Thailand und Laos plane. Im Februar 2024 meldete der Konzern die Verkaufsverhandlungen vorerst für gescheitert.
Wenige Monate später, Mitte Mai, konnte Östberg in einem anderen Land Vollzug melden: Der Wettbewerber Uber übernimmt für umgerechnet rund 878 Millionen Euro das Taiwan-Geschäft von Delivery Hero; zusätzlich steigt der US-Konzern über den Kauf eines Aktienpaket im Wert von umgerechnet 277 Millionen Euro bei Delivery Hero ein. „Wir müssen unsere Ressourcen auf andere Teile unserer globalen Präsenz konzentrieren“, hatte Niklas Östberg den Taiwan-Deal begründet. In anderen Ländern geht das offenbar nur über Abwicklungen. Bereits im vergangenen Dezember hatte Delivery Hero seine Aktivitäten in Vietnam geschlossen. In dem südostasiatischen Land lagen die Berliner mit ihrer Bestell-App Baemin weit abgeschlagen auf Rang drei, hinter zwei marktdominierenden Wettbewerbern.
Rückzug aus Slowakei, Dänemark, Slowenien und Ghana
In den vergangenen beiden Monaten dann beendete der Konzern seine Geschäfte in der Slowakei und in Dänemark, wo die Firma unter der Marke Foodora aktiv war. Das sei „eine schwierige Entscheidung” gewesen, sagte Delivery-Hero-Europachef Pedram Assadi laut einer Mitteilung. Im vertrauten Duktus erklärte er, dieser Exit ermögliche Delivery Hero, seine Investitionen auf andere Länder mit größeren Möglichkeiten umzulenken.
Und auch über die spanische Bestell-Plattform Glovo, die Delivery Hero 2022 komplett übernahm, bereinigen die Berliner ihr Portfolio. „Nach einer Neubewertung der Investitionsprioritäten des Unternehmens“, heißt es in einem Glovo-Statement, verabschiedete sich Glovo im Mai aus Slowenien und Ghana. Glovo werde seine Investitionen umlenken, um seine Position in den 23 Ländern zu stärken, in denen das Unternehmen weiterhin tätig ist.
Niklas Östberg hat also durchaus etwas vorzuweisen, sollte Scott Ferguson nach seiner Wahl in den Aufsichtsrat doch wieder die Lust aufs Attackieren ereilen: sechs Landesgesellschaften gibt es heute weniger als bei dessen Einstieg, für eine davon landet richtig viel Cash in der Kasse. Auch die letzten Zahlen weisen in die richtige Richtung. 2023 wuchs der Gesamtumsatz von Delivery Hero um 13 Prozent auf 10,5 Milliarden Euro. Im ersten Quartal 2024 konnte Delivery Hero nochmals um 21 Prozent zulegen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Infolgedessen korrigierte der Konzern seine Prognose für das laufende Geschäftsjahr nach oben auf ein voraussichtliches Wachstum zwischen 18 und 21 Prozent (zuvor: zwischen 15 und 17 Prozent). Auch den operativen Cashflow hat Niklas Östberg im vergangenen Jahr von minus 689 Millionen Euro (2022) auf minus 20 Millionen Euro deutlich verbessert.
Angesichts dessen stellt sich bei Delivery Hero die nicht ganz unberechtigte Frage, ob das Unternehmen einen aktivistischen Investor jetzt überhaupt noch braucht. Andererseits: Es bleibt weiterhin viel zu tun angesichts des dramatischen Werteverlusts an der Börse – und der mitunter missverständlichen Kommunikation. Zumindest eine Fraktion wird ungeachtet dessen über die Anwesenheit des Investors freuen: Die Arbeitnehmerseite darf durch die Aufstockung des Aufsichtsrats ebenfalls eine vierte Person für das Gremium benennen.
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