Er würde es nicht schaffen. Auch er nicht, der sich noch aus jeder ach so schwierigen Situation herausgewunden hat. Doch als Christian Olearius im Herbst 2023 in einen Saal des Bonner Landgerichts schreitet, glaubt keiner daran, dass der Banker für dieses Problem eine Lösung findet: Er muss sich vor den Richtern verantworten, weil er bei illegalen Cum-Ex-Deals mitgemischt haben soll. Weil der Staat ihm Steuern zwei Mal erstattet hat, die Olearius zuvor aber nur einmal gezahlt haben soll. Und weil so ein Millionenschaden entstanden sein soll.
Beobachter taxieren die Chancen damals auf null, dass der Ex-Chef der Warburg Bank den Saal als freier Mann verlässt. Schon zuvor waren doch Manager von Warburg verurteilt worden, weil das Institut bei den illegalen Geschäften mitgemischt hatte. Und dennoch ist jetzt der Schlussakt des Prozess-Dramas um Olearius vollzogen worden. Und das Undenkbare wahr geworden.
Denn: Der Prozess gegen Christian Olearius wird eingestellt, wie das Gericht am Montag entschieden hat. Um die Gesundheit des Angeklagten soll es derart schlecht bestellt sein, dass der 82-Jährige verhandlungsunfähig ist. Dabei ist Olearius das Gesicht der Cum-Ex-Affäre: Weil er den heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) um Nachsicht bei den Steuer-Deals seines Hauses gebeten haben soll, löste Olearius einen Skandal im Skandal aus. Und so stellt sich die Frage, wofür das Ende des Olearius-Prozesses steht: Die Einstellung ist vermutlich ein Vorbote. Sie offenbart – bei allen Einzelheiten des Falls – ein grundsätzliches Problem der Ermittlungen zu den Finanzdeals.
Dieses Problem lautet: Die bei Cum-Ex-Verfahren federführende Staatsanwaltschaft Köln, sie hat wohl zu breit ermittelt. Mit der Folge, dass neben Olearius noch weitere Verfahren gegen Cum-Ex-Beteiligte eingestellt werden könnten, die schon erkrankt sind. Oder die ob ihres Alters noch erkranken könnten.
Auf der Verdächtigenliste der Kölner Beamten stehen inzwischen mehr als 1700 Beschuldigte – eine gewaltige, womöglich nie zuvor erreichte Zahl in einem Ermittlungskomplex im Wirtschaftsbereich. Natürlich ist diese Zahl nicht gottgegeben: Die Staatsanwälte haben ihre Ermittlungen nach und nach auf immer mehr Beschuldigte ausgedehnt.
Staatsanwälte haben bei der Zahl der Verdächtigen übertrieben
Das war und ist bis zu einem gewissen Grad verständlich: Die Cum-Ex-Deals waren arbeitsteilig organisiert, für jeden einzelnen Schritt der hochkomplexen Steuergaunereien waren andere Finanzkenner verantwortlich. Zudem haben die Kölner Beamten die Beschuldigtenliste immer wieder erweitert, um wirklich alle potenziellen Täter zu erfassen, damit ja keiner straffrei davonkommt.
Dieser Ansatz war und ist löblich. Und doch drängt sich der Eindruck auf: Die Staatsanwälte haben bei der Zahl der Verdächtigen übertrieben. Und sich verzettelt.
Schneller schlau: Cum-ex-Geschäfte
Bei den auch „Dividendenstripping“ genannten Geschäften geht es um den raschen Kauf und Verkauf von Aktien rund um den Dividendenstichtag, um Kapitalertragssteuern mehrfach vom Fiskus erstattet zu bekommen. Am Tag vor der Dividendenzahlung ist diese im Aktienkurs mit eingepreist. An der Börse spricht man von einem Kurs „cum Dividende“.
Am Tag nach der Ausschüttung, in der Regel einen Tag nach Hauptversammlung, die die Dividendenzahlung beschließt, ziehen die Börsenbetreiber die Dividende vom Kurs ab, das heißt die Aktie wird „ex Dividende“ gehandelt. Von Banken bekamen die Aktienkäufer und -verkäufer eine Bestätigung, die Kapitalertragsteuer abgeführt zu haben, was sie beim Fiskus mehrfach steuerlich geltend machten - obwohl sie so nicht gezahlt hatten.
Ein Beispiel: Die Banken verkaufen die Aktien leer an einem „cum“-Tag, müssen sie aber wegen der Börsenregelungen erst nach zwei Tagen an den Käufer liefern. Sie beschaffen sich die Papiere also nach dem Dividendenstichtag zum „ex“-Preis – also ohne Dividende – von einem Dritten und liefern diese Aktien an den Käufer. Dabei parallel abgeschlossene Kurssicherungsgeschäfte, die Risiken ausschließen, sichern den Gewinn aus der Transaktion.
Papiere werden rund um den Dividendenstichtag – meist der Tag der Hauptversammlung ��� schnell hintereinander ge- und wieder verkauft. Leerverkäufer verdienen, wenn der Aktienkurs bis zum Liefertermin gefallen ist und sie so die Aktien billiger kaufen können, als sie sie verkauft haben.
Generell wird auf die gezahlte Dividende Kapitalertragssteuer fällig. Im geschilderten Konstrukt ließen sich sowohl der Käufer als auch der jeweilige Dritte, von dem sich die Banken die Aktien beschafft hatten, die Kapitalertragsteuer vom Finanzamt erstatten. Die Finanzämter zahlten so mehr Steuern zurück, als sie zuvor eingenommen hatten.
Im Wesentlichen nutzten Banken und Profianleger wie Fonds oder Börsenhändler den Steuertrick mittels Dividendenstripping.
Für Privatanleger sind Cum-ex-Geschäfte zu aufwendig, zumal es sich bei kleinen Anlagesummen kaum rechnet. Sie hätten nur geringe bis keine Chancen gehabt, an solchen Deals zu verdienen.
Banken und Investoren nutzten bestimmte Eigenheiten der Abwicklungssysteme an den Börsen, aber auch steuerrechtliche Besonderheiten – und das offensichtlich über Jahre hinweg und mit Wissen von Bund, Ländern und Finanzbehörden. So erklärte der Bundesfinanzhof das Dividendenstripping bereits in einem Urteil aus dem Jahr 1999 für grundsätzlich rechtens. Geschlossen wurde das Schlupfloch aber erst 2012 durch eine Neuregelung der Nachweispflichten.
Dafür spricht schon die Annahme, die inzwischen selbst Ermittler vertreten, wonach 80 oder 90 Prozent der 1700 Verfahren in den nächsten Jahren eingestellt werden dürften – ohne Prozess. Und ohne Urteil. Vermutlich werden viele Beschuldigte nicht mal eine Geldbuße zahlen müssen, damit die Staatsanwälte die Ermittlungen gegen sie stoppen.
Die Beamten werden schlicht Probleme haben, den an den unterschiedlichsten Stellen des Cum-Ex-Gebildes eingesetzten Beschuldigten nachzuweisen, das ganze Konstrukt überblickt, die illegale Natur der Geschäfte erkannt zu haben. Nun kann dem geneigten Publikum die Verdächtigenzahl egal sein, hätte diese nicht fatale Auswirkungen auf die Ermittlungen.
Olearius ist kein Einzelfall
Die riesige Anzahl an Beschuldigten hat die Aufklärung des Skandals verkompliziert und unnötig komplex gemacht: Es ist ein Verfahrenswust entstanden, der die Staatsanwälte und ihre Helfer mitunter überfordert hat. Die Folge ist, dass sich die Ermittlungen nun kaugummiartig in die Länge ziehen – und zwar auch die Ermittlungen zu genau den Bankern, die mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Überblick über die verabscheuungswürdigen Cum-Ex-Konstrukte hatten. Die nicht nur unwissende Beteiligte waren. Sondern Täter, die den Staat mit Vorsatz ausnahmen.
Zur Erinnerung: Die Kölner Ermittler haben ihre Aufklärungsarbeit vor mehr als zehn Jahren begonnen. Insofern ist es nur natürlich, dass ein Beschuldigter wie Olearius, der intime Einblicke in die Deals gehabt haben könnte, ob seines Alters nun zu krank ist, um verurteilt zu werden.
Wobei Olearius kein Einzelfall bleiben dürfte: Womöglich werden sich weitere Cum-Ex-Beteiligte nie vor einem Gericht verantworten müssen, indem sie auf ihre Gesundheit verweisen. Schließlich dürften die Ermittler noch mindestens zehn weitere Jahre brauchen, um alle 1700 Fälle abzuarbeiten.
Natürlich lässt sich einwenden: Die zuständige nordrhein-westfälische Landesregierung hätte der Kölner Staatsanwaltschaft noch mehr Ermittler stellen müssen, dann hätte es mit einer rascheren Aufklärung schon geklappt. Ganz so einfach ist es aber nicht: Es gab und gibt wohl einfach nicht genügend Ermittler, die sich mit einer solch komplexen Materie auskennen. Und sie lassen sich auch nicht einfach herbeizaubern, wenn der Staat entscheidet, einen Mega-Skandal wie Cum-Ex richtigerweise aufzuarbeiten.
Zwar ist es angebracht, den Mangel an fähigen Ermittlern immer wieder zu beklagen. Ebenso ist es angebracht, an den strukturellen Ursachen zu arbeiten, die zu diesem Mangel führen. Dennoch: Die Kölner Staatsanwälte hätten besser ein Cum-Ex-Ermittlungskonzept erdacht, das zu ihren Kapazitäten gepasst und sich von Anfang an auf die mutmaßlichen Haupttäter fokussiert hätte. Das wäre nicht nur der effizientere Ansatz gewesen. Sondern auch der gerechtere.
Zwar kann die Staatsanwaltschaft trotz der Einstellung noch versuchen, von Olearius die Millionen zurückzufordern, die er bei den Steuerdeals eingestrichen haben soll. Ein Erfolg bei diesem Unterfangen wäre angesichts des Prozess-Endes aber nur ein Mini-Sieg für die Ermittler: Den Multi-Multi-Millionär Olearius dürfte eine Geldzahlung weit weniger schmerzen als ein Gefängnisaufenthalt.
Die Kölner Staatsanwaltschaft hat ihre umfangreichen Ermittlungen immer wieder mit einem zentralen Argument begründet: Der Staat schnappe sich zwar die Otto-Normalos, wenn sich diese mal am Gemeinwesen versündigen. Die Reichen aber, die Banker und Unternehmer, die lasse er laufen – und weil damit nun Schluss sein müsse, ermittelten die Kölner so umfangreich bei Cum-Ex. Nun könnte es aber ausgerechnet bei den Steuerdeals dazu kommen, dass der Staat manche Verantwortliche laufen lassen muss. Was für ein Debakel.
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