Gründungsklima „Die Klage über Bürokratie ist eine bequeme Entschuldigung für eigene Fehler“

Quelle: Getty Images

Eine exklusive Studie hat weltweit die Rahmenbedingungen für Existenzgründer verglichen. Mitautor Rolf Sternberg erklärt, wo die Stärken und Schwächen Deutschlands liegen – und was für junge Gründer wichtig ist. 

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WirtschaftsWoche: Herr Sternberg, laut dem neuen „Global Entrepreneurship Monitor“ hat die Lust auf Selbstständigkeit in Deutschland 2023 abgenommen. Liegt das an der mauen Konjunktur – oder gibt es tiefer liegende Ursachen?
Rolf Sternberg: Man muss zwei Dinge auseinander halten: Im langfristigen Vergleich haben die Gründungsaktivitäten in Deutschland nicht ab-, sondern zugenommen. Der Anteil der 18- bis 64-Jährigen, die gerade im Gründungsprozess sind oder sich in den vergangenen 3,5 Jahren selbständig gemacht haben, liegt heute höher als vor 25 Jahren. Vor Corona, im Jahr 2019, gab es sogar einen Rekordwert. Doch nun bröckeln die Werte in der Tat wieder ab, und was noch bedenklicher ist: Obwohl die Gründungsquoten in Deutschland höher sind als früher, verlieren wir gegenüber einigen anderen europäischen Ländern trotzdem an Boden – weil die Entwicklung dort noch dynamischer ist.

Woran liegt es, dass sich in Deutschland nur rund 42 Prozent der Bürger prinzipiell zutrauen, ein Unternehmen zu gründen? Von den 21 im GEM untersuchten europäischen Ländern haben nur die Ungarn ein noch geringeres Selbstvertrauen...
Das hängt nicht zuletzt mit unserer generellen Haltung zum Unternehmertum zusammen. Wenn Selbstverantwortung und Risikobereitschaft gesellschaftlich honoriert werden und unternehmerisches Scheitern nicht als lebenslanger Makel gilt, sorgt dies für mehr Mut, es einfach zu versuchen. Hinzu kommt: Unternehmerisches Selbstbewusstsein entsteht auch durch Bildung. Die Vermittlung von Gründungskompetenz an deutschen Schulen aber ist konstant unzureichend, sagen die im GEM befragten Experten. Die Schulen vermitteln immer noch das Leitbild des abhängig Beschäftigten. Es gibt lobenswerte Initiativen, aber in der Fläche gelingt es den Schulen nicht, Gründungswissen und Gründungsmotivation zu vermitteln. Die meisten Lehrer kennzeichnet weder die Bereitschaft noch die Fähigkeit, den Schülern unternehmerische Selbstständigkeit als selbstverständliche Alternative zur abhängigen Beschäftigung zu kommunizieren. An außerschulischen Bildungseinrichtungen und Hochschulen hat sich die Situation verbessert, aber individuelle Werte und Normen sind mehrheitlich schon entwickelt, bevor die jungen Menschen dort ankommen.

Rolf Sternberg. Quelle: Presse

Zur Person

Auch bei einigen anderen gründungsrelevanten Rahmenbedingungen ist Deutschland 2023 zurückgefallen. Ist die Politik mitverantwortlich für die nur mittelmäßige Gründungsdynamik im Land?
Ja. Insgesamt würde ich dem Gründungsstandort Deutschland die Schulnote „3“ geben. Es gibt einige Bereiche, in denen wir gut sind, etwa bei öffentlichen Förderprogrammen, den niedrigen Markteintrittsbarrieren für Gründungen und der hohen Verfügbarkeit von unternehmensbezogenen Dienstleistungen. Bei anderen Rahmenbedingungen liegen wir im Mittelfeld, etwa beim Technologietransfer. Und bei wieder anderen Indikatoren landen wir hinten.

Wo denn?
Die schulische Gründungsausbildung und die gesellschaftlichen Normen und Werte habe ich bereits genannt. Deutlich schlechter als früher bewerten Gründungsexperten aber auch die physische Infrastruktur. 2003 lag Deutschland diesbezüglich auf Rang fünf unter 31 Staaten. Heute sind wir auf Rang 39 von fast 50 Ländern abgesackt.

Was müsste geschehen, um die Lust auf Selbständigkeit in Deutschland zu erhöhen?
Der zentrale Hebel heißt Bildung. In allen Bereichen unseres Bildungssystems sollten Selbständigkeit und Unternehmertum als selbstverständliche Alternative zur abhängigen Beschäftigung vermittelt und vorgelebt werden. Zweiter Punkt: Bei der Finanzierung von jungen Unternehmen hat sich in Deutschland sehr viel verbessert, aber gerade für schnell wachsende Start-ups gibt es noch Lücken bei der Bereitstellung von Wagniskapital, trotz Fortschritten in den vergangenen Jahren. Drittens brauchen wir eine breite Infrastrukturoffensive, damit wir unseren Ruf im Ausland nicht weiter ruinieren. Was bei uns bei Straße, Schiene und Digitalisierung schief läuft, wissen unsere Nachbarstaaten, aber in Asien etwa ist das zum Glück noch nicht überall angekommen. Ist das Image einmal ruiniert – und wir sind auf dem besten Weg dorthin – dauert es viele Jahre, bis man die Reputation wieder nachhaltig poliert bekommt.

Eine globale Studie hat die Rahmenbedingungen für Start-ups untersucht. Das Ergebnis für Deutschland ist zwiespältig.
von Bert Losse, Leonard Frick

Und was ist mit der berüchtigten deutschen Bürokratie?
Die ist meiner Meinung nach kein zentrales Hemmnis für Gründungsaktivitäten. Ich weiß, alle lästern über die Bürokratie. Im Gründungsbereich aber halte ich die Kritik für überzogen. Die bürokratischen Vorgaben für Gründer sind weniger ausufernd als sie oft dargestellt und wahrgenommen werden. Man ist vielleicht genervt von behördlichen Vorgaben, aber man gibt den Traum vom eigenen Unternehmen in der Regel nicht auf, weil irgendwelche Ämter Probleme machen. Bisweilen ist die Klage über Bürokratie auch nur eine bequeme Entschuldigung für eigene Fehler.

Was sind denn aktuell die wichtigsten Gründungsmotive in Deutschland? Das liebe Geld?
Die Gründungsmotive haben sich in den vergangenen Jahren signifikant verändert. Der Wunsch, die Welt zu verbessern, ist heute der dominierende Impuls, und zwar gleichermaßen bei Männern und Frauen. Über 70 Prozent der Gründerinnen und Gründer geben zum Beispiel an, dass sie bei Strategie, Produkten, Dienstleistungen und ihren Lieferketten ökologische Aspekte berücksichtigen. Was hingegen stark differiert, ist das Gründungsmotiv Geld. Der Wunsch, durch ein eigenes Unternehmen reich zu werden, war und ist bei Männern deutlich stärker ausgeprägt als bei Frauen. Männer gründen im Übrigen häufiger als Frauen. 2023 lag die sogenannte TEA-Quote, die das aktuelle Gründungsgeschehen widerspiegelt, bei Männern bei 9,3. Bei Frauen waren es nur 5,9. Das ist kein befriedigender Zustand, wir schöpfen in Deutschland das große Gründungspotenzial der Frauen zu wenig aus.

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Die höchste Gründungsdynamik unter den Teilnehmerstaaten des GEM haben fünf Länder aus Lateinamerika, die sonst nicht gerade als ökonomische Hotspots auffallen: Uruguay, Chile, Guatemala, Panama und Ecuador. Wie kann das sein?
Ja, das fällt auf – und sollte nicht überbewertet werden. In diesen wirtschaftlich überwiegend fragilen Ländern handelt es sich mehr als anderswo um schlichte Gründungen aus der ökonomischen Not heraus. Das heißt: Die Leute machen sich selbständig, weil sie angesichts fehlender Jobs oft gar keine andere Möglichkeit haben, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.  Man kann daraus nicht ableiten, dass die Rahmenbedingungen für Gründungen dort besonders gut sind – oder dass Deutschland diesbezüglich von diesen Ländern lernen könne. 

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