Frankreich-Wahl „Wenn Frankreich die falsche Wahl trifft, wird es für die EU noch schwieriger“

Quelle: imago images

Vor der Stichwahl in Frankreich treffen sich Ökonomen und Unternehmer zum Sommergipfel in Aix. Eine Technokratenregierung wäre ihnen am liebsten.

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Wie gut, dass man Mario Monti eingeladen hat. Geradezu hellsichtig. Die Organisatoren freuen sich aufrichtig. Wenige Stunden vor einer Wahl, die erstmals Rechtsextreme in Regierungsverantwortung bringen könnte, diskutiert Frankreichs Wirtschaftselite mit Verve eine rettend erscheinende Alternative. Eine Technokraten-Regierung soll es richten. Ein Kabinett aus Experten, vielseitig erfahren, aber politisch möglichst wenig vorbelastet.

Und wie der Zufall oder die in Frankreich gerne zitierte Vorsehung es will, sitzt in der Diskussionsrunde mit Monti gleich ein Gewährsmann für das Projekt. Schließlich hat der italienische Wirtschaftsprofessor und frühere EU-Kommissar 2011 sein Land mit genau solchen Technokraten aus einer der vielen Krisen geführt. Zumindest vorübergehend.

Es ist das erste Wochenende im Juli, und wie seit 2001 immer zu diesem Datum treffen sich auch diesmal unter provenzalischer Sonne mehrere hundert Ökonomen, Unternehmer, Philosophen und andere Denker beim „Mini-Davos“, um drängende Fragen der Zeit zu besprechen. Das diesjährige Motto „Die Welten verbinden, um sie miteinander zu versöhnen“ hat durch die vorgezogenen Neuwahlen zu Hause eine Aktualität von unerwarteter Wucht erhalten.

Bei der Parlamentswahl in Frankreich hat die vereinigte Linke überraschend den Sieg eingefahren. Premier Attal wollte daraus Konsequenzen ziehen und zurücktreten. Doch Präsident Macron hat vorerst andere Pläne.

Die Welt auf dem Veranstaltungs-Areal im Stadtpark Jourdan von Aix-en-Provence ist allerdings eine Bubble bei 28 Grad im Schatten. Sie hat nur wenig mit der Realität gemein, die einige Meter davon entfernt beginnt: Im Département Bouches-du-Rhône, zu dem die Stadt Aix gehört, liegen Kandidaten des rechten Rassemblement National (RN) in 14 von 16 Wahlkreisen vor der Stichwahl am Sonntag auf aussichtsreichen ersten Plätzen oder siegten bereits im ersten Wahlgang.

„Die Wahl wird entscheiden, ob Frankreich seiner Rolle noch gerecht werden kann,“ gibt Philippe Aghion, einer der profiliertesten Ökonomen des Landes, als erster Redner den Ton vor. „Wenn Frankreich die falsche Wahl trifft, wird es für die EU noch schwieriger, gegen die USA und China zu bestehen.“ Aghion redet gegen den Gesang von Tausenden Zikaden in den Zypressen und Platanen an. Der Schriftsteller und Philosoph Albert Camus wird zitiert: „Jede Generation glaubt, dass sie dazu bestimmt ist, die Welt neu zu gestalten. Meine weiß, dass sie es nicht wieder tun wird. Aber ihre Aufgabe ist vielleicht größer. Es geht darum, den Zusammenbruch der Welt zu verhindern.“

Während die Sonne die fünf Partyzelte aufheizt, die für 70 Debatten binnen zwei Tagen im Park stehen, werden die jüngsten Umfragen zu den Wahlabsichten wie Fieberkurven analysiert. Die Entfernung des RN von der absoluten Mehrheit nimmt in diesen Umfragen zu. Das gilt als Zeichen der Hoffnung und gibt der Idee von der Technokraten-Regierung Nahrung. Denn auch ein Schulterschluss zwischen gemäßigten Linken und Abgeordneten aus dem Lager von Staatschef Emmanuel Macron werde vermutlich eine Mehrheit verfehlen. Dann droht eine Blockade im Parlament.

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„TSR“ ist die Abkürzung des Tages. Sie steht für „tout sauf RN“ – alles außer RN. Dessen Wahlprogramm sei in Wahrheit ein unbeschriebenes Blatt mit womöglich zahlreichen negativen Überraschungen. Als die Finanzmärkte auf Pläne wie eine Rückkehr zur Rente mit 60 oder 62, auf die Ankündigung von Mehrwertsteuersenkung auf Artikel des Grundbedarfs oder auch die Streckung der Einkommensteuer für unter 30-Jährige mit sprunghaft steigenden Risikoprämien für französische Staatsanleihen reagierten, habe die Parteiführung eiligst einen Rückzieher gemacht, konstatiert Allianz-Chefökonom Ludovic Subran. „Zwischen dem 14. Juni und dem 24. Juni haben sie geplante Mehrausgaben im Staatshaushalt von 140 Milliarden auf 30 Milliarden Euro zusammengestrichen. In Wahrheit wissen wir aber nicht genau, was sie vorhaben.“

Nicht unwahrscheinlich sei, dass sie solche Rückzieher mit sehr viel härteren Positionen bei Einwanderungsfragen und in der Zusammenarbeit innerhalb der EU kompensieren würden. „Wir werden Situationen erleben, in denen sie die Geduld der übrigen Mitgliedsländer auf die Probe stellen,“ warnt Subran.

Deshalb werden nun Namenlisten entworfen. François Villeroy Galhau, der amtierende französische Notenbankchef, könnte zum Beispiel einer Technokraten-Regierung angehören. Die Riege von Ökonomen, Spitzenbeamten, Diplomaten und anderen vielleicht sogar anführen. Wie sieht es aus mit der aktuellen EZB-Chefin Christine Lagarde? Sie eilte schon einmal zurück in ihr Land, um ihm in einer Krise beizustehen. Das war, nachdem der rechtsradikale Jean-Marie Le Pen von der damals noch Front National genannten Partei 2002 in die Stichwahl um das Präsidentenamt gelangte.

Ihren Posten als Vorsitzende der großen internationalen Anwaltskanzlei Baker MacKenzie gab sie dafür auf. Von 2005 bis 2011 war Lagarde dann erst Außenhandels- und schließlich Finanzministerin unter Präsident Nicolas Sarkozy. Würde Sie Frankreich gegen Frankfurt tauschen, wenn jetzt die Le Pen-Tochter Marine und deren politischer Zögling Jordan Bardella nach der Macht griffen? Hm, vielleicht doch schon zu viel politische Erfahrung im Lebenslauf. Der Name rutscht auf der Liste nach unten.

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Unternehmer winken gleich ab. „Dafür bin ich inkompetent,“ wehrt etwa Florent Menegaux, Chef des Reifenherstellers Michelin, im Gespräch mit der WirtschaftsWoche ab. „Als Unternehmen akzeptieren wird das Wahlergebnis und stellen uns darauf ein.“ Jacques Aschenbroich wird noch deutlicher. „Ich würde Nein sagen, wenn man mich fragte,“ bekennt der langjährige Vorstandsvorsitzende des französischen Autozulieferers Valeo und amtierende Aufsichtsratschef des Telekomkonzerns Orange. „Für die Politik bin ich viel zu rational.“

Vergleiche mit Deutschland hört man nicht gern

Französische Ökonomen kritisieren, dass die Unternehmer des Landes sich zu wenig politisch exponierten und auch nicht ganz unschuldig an dem Frust vieler Menschen seien, die nun ihr Kreuz bei rechten Kandidaten machen. Die Beschäftigten fühlten sich in ihren Unternehmen genauso repräsentiert wie von der Politik, sagt Jean-Hervé Lorenzi, Mitbegründer des Wirtschaftstreffens von Aix. Philippe Aghion geht noch weiter: „Im Elysée-Präsidentenpalast darf kein Generalsekretär mehr sitzen, der alles entscheidet. Er fordert mehr Entscheidungsmacht für das Parlament. „Und genauso, wie es keine Politik mehr von oben nach unten geben darf, muss sich dies auch in den Unternehmen ändern.“ Aghion fordert für Frankreich ein Modell der Mitbestimmung wie in Deutschland, für „mehr Demokratie in den Unternehmen“.



Solche Parallelen hören die anwesenden Unternehmer nicht gern. Jacques Aschenbroich räumt ein, er könne nicht garantieren, dass nicht „zwei Drittel von Unternehmen, die ich geführt habe oder führe, rechts wählen. Er sitzt in einer Diskussionsrunde über die – nicht nur für Frankreich – derzeit entscheidende Frage: Wie verwandelt man eine von Misstrauen dominierte Gesellschaft in eine, wo Menschen einander mit Vertrauen begegnen? Vertrauen entstehe dort, wo Vernunft die Entscheidungen lenke, sagt Aschenbroich. Das sei in Unternehmen der Fall.

Dominique Carlac’h, Mitglied im Führungsgremium des größten französischen Unternehmerverbands Medef, glaubt dagegen, die „Unternehmen haben keine Wahl mehr. Sie müssen sich mehr einbringen.“ Berufsausbildung und Fortbildung dürfe sich nicht mehr auf Fächer wie Mathematik oder Naturwissenschaften konzentrieren. „Wir brauchen auch einen Fokus auf Gesellschaftswissenschaften.“ Und sie plädiert für Philosophen und Psychologen in allen Unternehmen – „für einen echten Gesellschaftsvertrag“.

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Die gute Nachricht des Wirtschaftstreffens kommt schließlich von Taavi Madiberk. Der Mitbegründer und Chef von Skeleton Technologies, Entwickler und Hersteller von Energiespeichern ist aus Estland nach Aix gereist. Seine Firma wolle wie geplant 2027 die Massenproduktionsanlage für sogenannte Superbatterien in Toulouse in Betrieb nehmen, sichert er zu. Egal, wer künftig politisch entscheidet.

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