EU-Gipfel in Brüssel Scholz warnt vor einer „Hängepartie“ in Europa

Die Entscheidung für EVP-Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen als alte und neue Präsidentin der EU-Kommission wurde vorab von sechs Unterhändlern im Rat gefällt. Quelle: imago images

Beim EU-Gipfel sollen nicht nur drei Spitzenpersonalien bestätigt werden, sondern auch Korrekturen bei Binnenmarkt, Freihandel und Wirtschaftspolitik. Aber Ursula von der Leyen braucht danach noch die Zustimmung des EU-Parlaments.

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Offiziell ist die Messe bereits gesungen, wenn die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Mitgliedsstaaten in Brüssel heute und morgen zum letzten offiziellen Gipfel vor der Sommerpause zusammenkommen. Das europäische Personaltableau steht, aber nach den Entscheidungen für die Spitzenjobs sind noch zahleiche „Aufräumarbeiten“ zu erledigen, wie ein EU-Diplomat sagt. So ist Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hochgradig verstimmt, weil sie von dem Prozess ausgeschlossen war.

Die Entscheidung für EVP-Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen als alte und neue Präsidentin der EU-Kommission, für den sozialdemokratischen Portugiesen Antonia Costa als Präsident des Rats und der liberalen Regierungschefin von Estland, Kaja Kallas, als Außenbeauftragte der EU, wurde vorab von sechs Unterhändlern im Rat gefällt. Diese setzen sich zusammen aus jeweils zwei Vertretern der drei Parteienfamilien, die im EU-Parlament in Straßburg die Mehrheit von rund 400 der insgesamt 720 Sitze stellen. 

Das waren für die EVP als siegreiche Parteienfamilie der polnische Ministerpräsident Donald Tusk und Griechenlands Premier Kyriakos Mitsotakis, für die Sozialdemokraten als zweitgrößte Partei im Europäischen Parlament Bundeskanzler Olaf Scholz und der spanische Regierungschef Pedro Sanchez sowie für die unter dem Dach von Renew versammelten Liberalen Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron und der niederländische Premierminister Mark Rutte.  

Ursula von der Leyen scheut Festlegungen und ist eine Meisterin wechselnder Mehrheiten. Genau damit könnte sie EU-Kommissionschefin bleiben.
von Daniel Goffart

Meloni fordert Superkommissar

Da die große Mehrheit der 27 Staats- und Regierungschefs einer dieser drei Parteienfamilien angehört, gilt das Personaltableau als fest beschlossen, auch wenn Ungarns Premierminister Victor Orban bereits angekündigt hatte, das Paket abzulehnen. Italiens Regierungschefin Meloni will sich ihre Zustimmung aber noch offenhalten – manche sagen „abkaufen“ lassen. Dem Vernehmen nach wurde der griechische Regierungschef Mitsotakis von den Unterhändlern beauftragt, mit Meloni zu reden.

Die Italienerin und ihre rechtspopulistischen „Fratelli d´Italia“ (Brüder Italiens) waren – anders als Sozialdemokraten und Liberale – gestärkt aus den Europawahlen hervorgegangen. Als Land mit der drittgrößten Wirtschaft innerhalb der EU fordert Meloni eine gebührende Mitsprache ein. Da ihr das beim Spitzenpersonal nicht gelang, wird sie wohl Forderungen bei der weiteren Postenverteilung stellen. In Brüssel heißt es, dass sie vom Rat einen attraktiven Kommissarposten auf der Ebene eines Vizepräsidenten für Italien verlangen wolle.

Scholz nennt Prioritäten für Brüssel

Auch inhaltlich werden die 27 Chefs neue Schwerpunkte setzen. Der EVP-Fraktionsvorsitzende Manfred Weber erinnerte daran, dass die EVP als Wahlsiegerin politische Korrekturen unter anderem beim Asyl- und Migrationsrecht sowie in der Wirtschaftspolitik fordere. Dem müsse bei der Aufstellung des Arbeitsprogramms der neuen Kommission Rechnung getragen werden. Scholz und Macron, die trotz ihrer Wahlschlappen immer noch das tonangebende Duo in Europa sind, hatten bereits einzelne Punkte genannt. Dazu zählen vor allem mehr gemeinsame Anstrengungen bei der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

„Putin setzt weiter voll auf Krieg“, sagte Scholz gestern in Berlin bei seiner Regierungserklärung zum EU-Gipfel. Die Ukraine und der Westen wollten  „Frieden aber keine Unterwerfung – dieses Ziel wird Putin nicht erreichen“. Außerdem drängte Scholz auf eine „Vollendung des Binnenmarkts“ und auf mehr Freihandel. Er sei „mit den Ergebnissen der Kommission zum Freihandel nicht zufrieden“. Angestrebt werden soll ferner eine Kapitalmarktunion und – wenn möglich – auch eine Bankenunion. Scholz betonte, „wir brauchen einen funktionierenden Kapitalismus in Europa“. Außerdem werde er von der Leyen beim Wort nehmen, die eine Reduzierung der Bürokratie um 25 Prozent zugesagt hatte.  

Green Deal nicht mehr Platz 1

Bevor allerdings von der Leyen wieder ihren Platz an der Spitze der Kommission einnehmen kann, muss sie noch mit Mehrheit vom EU-Parlament bestätigt werden. Zwar verfügen EVP, Sozialdemokraten und Liberale über eine Mehrheit von rund 40 Stimmen. Da es aber im EU-Parlament keinen Fraktionszwang gibt und die Abgeordneten je nach Land durchaus unterschiedlich votieren, ist in der geheimen Abstimmung alles möglich. Sozialdemokraten und Liberale haben von der Leyen bereits gewarnt, dass sie nicht für sie die Hand heben würden, wenn sie zusätzlich um Unterstützung von Rechtspopulisten oder Rechtsradikalen werben würde. Auch die Grünen würden wohl zum Teil für die Deutsche stimmen, fordern aber von ihr en eindeutiges Bekenntnis zum Green Deal. Gerade bei diesem Thema aber dringen von der Leyens Parteifreunde auf Korrekturen. Bei den ersten drei Prioritäten finden sich die Themen Migration, Wirtschaft und Sicherheit – der Green Deal taucht in dieser Liste nicht so weit vorne auf.

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Die Abstimmung findet in der dritten Juliwoche in Straßburg statt. Es gibt nur einen Wahlgang. Verfehlt von der Leyen dabei die Mehrheit, ist ihre Kandidatur gescheitert. Der EU-Rat müsste dann eine neue Kandidatin oder einen neuen Kandidaten vorschlagen. Scholz mahnte – wohl auch mit Blick auf das Parlament – vor den Konsequenzen. „Wir dürfen uns keine Hängepartie in diesen schwierigen Zeiten leisten“.

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