Die Bau- und Immobilienwirtschaft befindet sich in einer schweren Krise, die nicht nur die Branche selbst betrifft, sondern mittlerweile in besorgniserregender Weise auch die Lebenswirklichkeit vieler Bundesbürger. So kommt zum Beispiel die Instandsetzung einer über Jahrzehnte leichtfertig heruntergewirtschafteten Infrastruktur nur sehr schleppend voran. Schlimmer noch: Mehr und mehr fehlt bezahlbarer Wohnraum und es ist absehbar, dass sich die Lage bald dramatisch verschärfen wird, wenn es nicht gelingt, rasch und durchgreifend gegenzusteuern.
Die Politik hat den Ernst der Lage zumindest in Bezug auf den Wohnungsbau erkannt. So haben der Bundeskanzler und die 16 Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder schon im November 2023 einen Deutschland-Pakt für Planungsbeschleunigung am Bau vereinbart. Mit dem dort beschlossenen Maßnahmenpaket sollen die Akteure aus der Bau- und Planungsbranche ermutigt werden, „kreativ und kostengünstig zu planen und zu bauen“.
Anknüpfend an das inhaltlich gleichgerichtete Maßnahmenpaket der Bundesregierung aus dem September 2023 heißt es dazu in dem Papier „Deutschlandpakt für mehr Tempo“ unter anderem: „Dazu wird ein Gebäudetyp „E“ („E“ wie einfach) eingeführt, mit dem schnelleres und einfacheres bauen ermöglicht wird.“
Zur Person
Stefan Leupertz war bis 2012 Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe, zuständig für Bau- und Architektenrecht. 2013 machte er sich selbstständig und arbeitet seither national und international als Schiedsrichter, Schlichter und Berater für Bauunternehmer und Projektentwickler. Leupertz ist Honorarprofessor für Bauvertragsrecht an der TU Dortmund und Lehrbeaufragter an der Philipps-Universität Marburg.
Weg mit Baustandards, die viel kosten aber wenig nützen
Das große Problem: Fahrt aufgenommen hat der vollmundig ausgerufene Umgestaltungsprozess bisher nicht. Das liegt nicht zuletzt an einem fundamentalen Fehlverständnis des unter dem Stichwort „Gebäudetyp E“ verfolgten Ansatzes, der eben keine neue Gebäudeart betrifft, sondern einen Prozess beschreibt, um Wohnungsbauvorhaben effizienter und damit kostengünstiger realisieren zu können.
Bauen nach dem Prinzip „Gebäudetyp E“ eröffnet für Projektpartner vielmehr die Chance, die Rahmenbedingungen für die Verwirklichung des Bauvorhabens individuell zu bestimmen und zu vereinbaren. Dafür müssen sie in die Lage versetzt werden, einfach und rechtssicher auf kostentreibende bautechnische Standards zu verzichten, deren Einhaltung weder für die Wahrung von bauordnungsrechtlich verankerten Sicherheits- und Schutzstandards noch für die ihren konkreten Bedarfen entsprechende Durchführung der Baumaßnahme erforderlich ist.
Beispielsweise müssen die Projektpartner im Einzelfall und ohne Rücksicht auf nicht selten überbordende Standards frei darüber entscheiden dürfen, welches Maß an Schallschutz sie mit welchem baulichen Aufwand realisieren wollen. Oder: Wer nur zwei Steckdosen in jedem Raum will, der soll auch nur zwei bekommen, auch wenn eine solche Ausstattung deutlich hinter dem zurückbleibt, was bei Einhaltung der anerkannten Regeln der Technik als Ausstattung eingebaut werden müsste.
Effizientes und innovatives Bauen wird verhindert
Solche Rahmenbedingungen bietet der Markt nicht. Stattdessen findet Bauen hierzulande in Strukturen statt, die Innovation und effizientes Bauen nicht befördern, sondern verhindern. Diese Strukturen sind geprägt von Vertragsregeln, die Planung und Ausführung voneinander trennen und den ökonomischen Erfolg der Projektbeteiligten systemisch an die hochkonfrontative Durchsetzung von Partikularinteressen in einer von Intransparenz gekennzeichneten Wettbewerbssituation knüpfen.
Die Implementierung kooperativer Projektabwicklungsmodelle wird allerdings durch rechtliche Hürden verhindert, die in der systemischen Überregulierung des Bauens wurzeln. Das betrifft zum einen den Bereich des öffentlichen Baurechts und die Bearbeitung und Erteilung von Baugenehmigungen. Relevanter ist jedoch besonders das materielle Baurecht, wo insbesondere die anerkannten Regeln der Technik als Kostentreiber und Innovationshemmer wirken, indem sie die Projektpartner über den Haftungsmechanismus des § 633 Abs. 2 BGB faktisch dazu veranlassen, bautechnische Standards zu vereinbaren, die sie zur Realisierung der gemeinsamen Bauziele gar nicht benötigen.
Somit bleibt es dabei, dass Neubauwohnungen weiterhin kosten- und wartungsintensiv zwangsbelüftet werden, obwohl der intelligente, zwischen den Projektpartnern abgestimmte Einsatz neuartiger ökologischer Baustoffe und Bauverfahren zu besseren Ergebnissen für das Raumklima bei deutlich geringeren Kosten führen würde.
Es braucht einen Systemwechsel
Die Erkenntnis daraus ist ebenso weitreichend wie banal: Wir müssen ganz grundsätzlich die Spielegeln ändern, nach denen hierzulande ökonomische Austauschgeschäfte abgewickelt werden. Die Zeit ist reif für einen grundlegenden Systemwechsel, der allerdings weit über die Belange des Bauens hinausgeht.
Die insbesondere im Wohnungsbau offen zutage liegenden Missstände sind bei näherer Betrachtung nur die sichtbare Ausprägung eines übergeordneten gesellschaftspolitischen Problems, dem wir uns über kurz oder lang stellen müssen: Passen die in den Marktwirtschaften westlicher Prägung geltenden Spielregeln für die Gestaltung ökonomischer Austauschprozesse noch in eine Welt, in der sich die maßgeblichen Rahmenbedingungen durch die unabweisbaren Anforderungen an ein global gerechtes, ressourcen- und klimaschonendes Wirtschaften innerhalb kürzester Zeit dramatisch verschoben haben?
Die Antwort lautet eindeutig: Nein! Es liegt vielmehr auf der Hand, dass ein von Effizienz, Menschlichkeit und ökologischer Vernunft geprägter Güteraustausch organisiert werden kann, ohne die ökonomischen Ziele und Erwartungen der jeweils Beteiligten preisgeben zu müssen. Allerdings brauchen wir hierfür einen Bewusstseins- und Kulturwandel, den wir jetzt einleiten müssen, wenn wir auch in Zukunft in Wohlstand und sozialem Frieden leben wollen.
Lesen Sie auch: Es wird noch gebaut – aber oft am falschen Ort