Es ist rund fünf Jahre her, dass sich WeWork beim Versuch, an die Börse zu gehen, von den Investoren eine Abfuhr holte und das Vorhaben zunächst aufgeben musste. Hauptgrund für das Scheitern war die absurd hohe Unternehmensbewertung, die mit den im Wertpapierprospekt offenbarten, horrenden Verlusten nicht in Einklang zu bringen war. Um diese Verluste zu übertünchen, hatte sich das Unternehmen des am Kapitalmarkt bekannten Ebitda bedient, um allerlei Kosten bereinigt und das Ganze „Community Adjusted Ebitda“ genannt. So konnte es doch noch eine positive Kennzahl herausstellen.
Schon das Ebitda, das operative Ergebnis vor Wertberichtigungen, ist keine nach dem US-Rechnungslegungsstandard GAAP genormte Bewertungsgröße für den Unternehmenserfolg. Der 2023 verstorbene Kollege von Warren Buffett, Charlie Munger, bezeichnete es einst als „Bullshit Earnings“.
Auch im in Deutschland gebräuchlichen IFRS-Standard gibt es für die Berechnung des Ebitda keine Vorschriften. Er verpflichtet Unternehmen nur dazu, im Geschäftsbericht die Berechnung im Detail herzuleiten. Als wäre das nicht problematisch genug, wird das Ebitda oft auch noch bereinigt.
Für Anleger war der Fall WeWork leicht zu durchschauen. Lange bevor der Büroflächen-Anbieter 2021 doch noch an die Börse kam, hatte es eine breite Berichterstattung zur Zahlenakrobatik des Unternehmens gegeben. Anleger waren gewarnt, niemand musste hier Geld verlieren. Ende 2023 ging das Unternehmen mit seinem Geschäftsmodell, das offenbar nie funktioniert hatte, in die Insolvenz. WeWork aber war eine Ausnahme. Oft werden Investoren, Presse und alle anderen Interessenten, ohne es zu bemerken, von börsennotierten Unternehmen zu einem Tänzchen aufs Glatteis geführt.
Nachträglich korrigiert
Zum Beispiel kürzlich von der Renk Group. Der Getriebehersteller veröffentlichte am 27. März seinen Bericht zum vergangenen Geschäftsjahr und sendete über den Dienstleister EQS eine Zusammenfassung der wesentlichen Kennzahlen als Börsenmitteilung. Darin wurde gleich dreimal auf das erzielte Ebit von 150 Millionen Euro verwiesen. Bloß: Diese Angabe war falsch. Das Ebit betrug nur 89 Millionen Euro. Bei den 150 Millionen Euro handelte es sich um eine bereinigte Kennzahl. Das Wörtchen „bereinigt“ fehlte allerdings.
Die Wahrheit erfuhr nur, wer in den Geschäftsbericht schaute. Nachrichtenagenturen, die solche Meldungen aufgreifen und daraus blitzschnell eigene Texte formulieren, haben dafür in der Regel keine Zeit. Und so schrieb „Reuters“ von einem Betriebsgewinn von 150 Millionen Euro, der dann von Medien wie dem „Handelsblatt“ oder „N-TV“ weiterverbreitet wurde. Das Anlegermagazin „Euro am Sonntag“ setzte dem Informationsdebakel die Krone auf und machte aus den 150 Millionen Euro gleich das Vorsteuerergebnis, was falscher nicht sein könnte. Die „Börsenzeitung“ immerhin gab sich mehr Mühe und benannte die Zahl korrekt als bereinigtes Ebit.
Telefonisch dazu befragt, wollte der für Investor Relations zuständige Unternehmensvertreter von Renk keinen Fehler erkennen. Er hielt die Angaben in der Unternehmensmitteilung für richtig. Mehrere Tage später wurde die Meldung trotzdem korrigiert. Aber nicht, indem – wie in solchen Fällen üblich – das Unternehmen eine Korrekturmeldung über die Plattform EQS versendete und so die Investoren über den Fehler informiert hätte. Nein: Der Inhalt der Meldung wurde bei EQS einfach nachträglich verändert. Da die Originalnachricht auch an andere Börsenportale weiterverbreitet worden war und dort nicht korrigiert werden kann, sind von derselben Meldung nun zwei Varianten im Umlauf.
Vertrauen geht verloren
Wenn Investoren dem Inhalt einer Börsenmitteilung nicht mehr vertrauen können, weil diese irreführend ist und von der Darstellung in Finanzberichten abweicht, müssen sie sich fragen, wie sie mit solchen zum schnellen Konsum präsentierten Fakten umgehen sollen. Wenn darüber hinaus die Inhalte dieser Mitteilungen nachträglich ohne Hinweis verändert werden können, wird die Verlässlichkeit der Unternehmenskommunikation in Richtung des Kapitalmarkts in Frage gestellt, das Vertrauen in das System zerstört.
Börsengang: Fakten und Begriffe
IPO steht für „Initial Public Offering“, was so viel wie „erstmaliges öffentliches Angebot“. Im Angelsächsischen spricht man bei einem Börsengang auch von „going public“. Es geht also um den Börsengang, der Anlegern erstmals öffentlich Teile des Unternehmens in Form vom Aktien anbietet. Die Aktien sind dabei ein – meist winziger – verbriefter Anteil am Eigenkapital eines Unternehmens.
Eine Neuemission ist ein Angebot neu geschaffener Wertpapiere. Das können Aktien, Anleihen, Zertifikate oder sonstige Wertpapiere sein. Kommen etwa bei einem Börsengang neue Aktien aus einer Kapitalerhöhung auf den Markt, spricht man von einer Neuemission.
Sie legt den Zeitraum fest, innerhalb dessen ein Anleger neu emittierte Wertpapiere zeichnen kann, also sich durch schriftliche Erklärung die Übernahme eines bestimmten Betrags zusichern kann. Nur wenn die Nachfrage schwach ist, wird eine Zeichnungsfrist auch mal verlängert.
Vor Beginn der Zeichnungsfrist nennt das Unternehmen eine Preisspanne, zum Beispiel von 20 bis 25 Euro. Die Investoren teilen dann mit, wie viele Aktien sie zu übernehmen bereit sind und nennen dafür einen Preis innerhalb der Preisspanne. Kommen nicht genug Anfragen zusammen, kann das Unternehmen – der Emittent – die Preisspanne auch senken. Aus den Zeichnungsaufträgen ermittelt der Emittent dann den Ausgabepreis, zu dem es die Aktien den Investoren überlässt.
Bei vielen Börsengängen können über das genannte Emissionsvolumen hinaus in den Tagen nach der Erstnotiz an der Börse weitere Aktien ausgegeben werden. Diese Mehrzuteilung wird auch Greenshoe genannt. Sie kommt bei hoher Nachfrage nach den Wertpapier zum Einsatz. Wie groß der Greenshoe ist, muss im Börsenprospekt stehen.
Nachdem die Aktien zum Ausgabepreis an die Anleger verteilt worden sind, wird es ernst: Die Aktien werden zum ersten Mal an der Börse gehandelt. Aus Kauf- und Verkaufsangebot wird der erste Kurs im Handel ermittelt – die Aktie notiert zum ersten mal an der Börse. Die Erstnotiz erfolgt zum angekündigten Datum, der erste Handelskurs sollte über dem Ausgabepreis liegen.
Wertpapiere, die an einer Börse gehandelt werden, unterliegen bestimmten Spielregeln. An einem regulierten Markt sind diese besonders umfassend und verlangen zum Beispiel Banken, die den Handel betreuen und Berichtspflichten, wie die Veröffentlichung von Quartalsberichten nach bestimmten Vorschriften. Am unregulierten Markt sind die Vorschriften lascher und die eine Überwachung des Handels – etwa bei der Kursbestimmung - greift nicht.
Beim Börsengang kommt eine zuvor festgelegt Zahl an Aktien in den Börsenhandel. Der Wert all dieser Aktien zusammen entspricht dem Platzierungsvolumen. Dabei kann es sich um neue Aktien aus einer Kapitalerhöhung (Neuemission) oder um Aktien der bisherigen Eigentümer und vorbörslichen Investoren handeln.
Multipliziert man den Aktienkurs mit der Zahl aller frei handelbaren Aktien eines Unternehmens, erhält man den Börsenwert eines Unternehmens. Dieser entspricht der Marktkapitalisierung gleichgesetzt. Die Aktien, die nicht zum Handel an der Börse zugelassen sind, – also im Bestand des Unternehmens verbleiben – sind dabei unberücksichtigt.
Unternehmen lassen selten alle Aktien an der Börse zum freien Handel zu, sondern lediglich einen Teil. Liegt etwa der Streubesitz bei 30 Prozent, sind auch nur 30 Prozent der Eigenkapitalanteile an der Börse handelbar. Je höher der Streubesitz, umso liquider ist der Handel und umso geringer die Kursschwankungen, die sich aus Kauf- und Verkaufsorders ergeben.
In der Regel verbleibt bei einem Börsengang ein großer Teil der Aktien in Besitz von den bisherigen Eigentümern. Während der Haltefrist – auch Lock-up-Periode genannt – dürfen sie aus diesem Bestand keine Aktien verkaufen. Eine lange Haltefrist gilt als Bekenntnis zu einem Unternehmen.
Die Konsortialbanken begleiten den Börsengang und anschließenden Aktienhandel für ein Unternehmen. Das lassen sich die Banken natürlich vom Unternehmen bezahlen. Eine besondere Aufgabe fällt den Konsortialbanken zu, die sich als Designated Sponsor engagieren. Sie sorgen dafür, dass der Handel liquide bleibt, auch wenn zum Beispiel Käufer keinen Verkäufer der Papiere finden. Dann übernehmen sie den Part des Verkäufers, damit immer ein Kurs gestellt werden kann.
Darunter versteht man das Verfahren, mit dem der Preis für neu an die Börse zu bringende Aktien festgelegt wird. Da vor der Emission von neuen Aktien kein Börsenhandel mit diesen Papieren stattfindet, kann dieser Preis nicht durch Angebot und Nachfrage an der Börse bestimmt werden. Beim angelsächsischen Auktionsverfahren geben die Banken, die das Unternehmen an die Börse bringen, eine Preisspanne vor. Innerhalb dieser können Investoren ihre Gebote abgeben. Auf Grund der vorliegenden Orderlage wird der tatsächliche Emissionskurs letztlich aus dem Gebots-Durchschnitt gebildet. Früher wurde das heute kaum noch gebräuchliche Festpreisverfahren angewandt, bei dem sich die beratenden Banken und die AG schon vor Verkaufsangebot auf einen Preis einigten, den Anleger dann akzeptieren mussten.
Die Roadshow ist eine Werbetour eines Unternehmens bei möglichen Investoren. Dabei wird versucht, möglichst viele Investoren zu gewinnen, die den angestrebten Preis für die Aktien zu zahlen bereit sind. Die Roadshow ist daher wichtig, um die richtige Preisspanne auszuloten.
Jedes Unternehmen könnte auf diese Art kursbewegende, falsche Inhalte bekanntmachen, warten, bis diese von der Presse aufgegriffen und weiterverbreitet werden, und anschließend die Originalnachricht berichtigen. Sicher, die Spuren der Manipulation ließen sich nicht vollständig beseitigen. Der potenzielle Schaden für Anleger, die ihre Handelsentscheidungen auf Basis falscher Informationen träfen, wäre dennoch enorm.
Vor zwei Jahren schrieb das Unternehmen The Social Chain in der Überschrift einer Börsenmitteilung zum Geschäftsjahr 2021: „Erfolgreich profitabel, mehr als 20 Mio. Euro EBITDA“. Auch das war eine bereinigte Kennzahl, und auch hier hatte man das Wörtchen „bereinigt“ einfach weggelassen. Stunden später wurde zumindest eine korrigierte Meldung verschickt. Auf die Tatsache, dass es sich um eine Korrektur handelte, wies das Unternehmen aber nicht hin. Und die behauptete Gleichsetzung von Profitabilität und bereinigtem Ebitda blieb ohnehin irreführend. Das tatsächliche Konzernergebnis – wen wundert’s – war tiefrot, 2023 ging das Unternehmen in die Insolvenz.
Die Mär von der Profitabilität
Wenn ein Unternehmen ein bereinigtes Ebitda in der Überschrift seiner Börsenmitteilung mit Profitabilität gleichgesetzt, kann es damit rechnen, dass dieses Wort in der Presseberichterstattung auch so aufgegriffen wird. Es gibt mehrere Beispiele dafür und es ist naheliegend, dass es von den Unternehmen auch genau deswegen so platziert wird.
Die Auto1 Group ließ es sich nicht nehmen, im November 2023 mitzuteilen, dass sie im vergangen Quartal die Profitabilität erreicht habe. Das Portal „wallstreet-online.de“ griff das auf und schrieb gar von „beeindruckender“ Profitabilität. Auf der Seite „4investors.de“ hingegen hieß es am selben Tag, Auto1 habe „weiterhin tiefrote Zahlen„. Selbst der Laie wird nicht glauben, dass man ein und dieselbe Unternehmensmitteilung so unterschiedlich bewerten kann. Am Jahresende stand ein Konzernergebnis von minus 120 Millionen Euro.
Auch der Modeversand About You schrieb 2023 von „Profitabilität“ bezogen auf das vergangene Quartal – und zielte damit nur auf das bereinigte Ebitda ab. Die Nachrichtenagentur „dpa“ titelte daraufhin: „About You erzielt überraschend operativen Gewinn“. Viele Redaktionen schrieben offenbar bei dpa ab. Im „Handelsblatt“ hieß es: „About You überrascht mit schwarzen Zahlen“, in der „Börsenzeitung“: „About You spart sich profitabel“. Auch „Manager Magazin“, „Business Insider“ und andere stimmten mit ein. Einige Redaktionen korrigierten ihre Meldungen später, andere fühlten sich im Recht oder antworteten auf eine diesbezügliche Nachfrage nicht.
Um auf eine positive Kennzahl zu kommen, reichte es bei About You, die aktienbasierten Vergütungen aus dem Ebitda herauszunehmen, obwohl auch diese am Ende für die Aktionäre echte Kosten bedeuten durch Verwässerung ihrer Anteile und geringeren Cashflow pro Aktie. Schon das unbereinigte Ebitda ist als Kennzahl in diesem Fall nicht sehr hilfreich. Darin nicht enthalten sind Abschreibungen auf Nutzungsrechte für Distributionszentren – also Mietaufwand. Es wird niemanden überraschen, dass Mietverträge für echte Gebäude auch echtes Geld kosten und dass das Unternehmen diese Gebäude für den Geschäftsbetrieb benötigt. Der Aktienkurs schnellte nach der positiven Meldung jedenfalls nach oben. Das Periodenergebnis war damals und ist nach dem aktuell letzten Quartal immer noch deutlich negativ. Die Aktie steht heute fast 40 Prozent tiefer.
Bonus für den Vorstand
Wer die Vergütungsberichte von Unternehmen anschaut, findet einen weiteren Grund, warum das bereinigte Ebitda gern ins Schaufenster gestellt wird. Beim Online-Optiker Mister Spex etwa wird diese Kennzahl für das Erreichen kurzfristiger Gesamtziele zu 50 Prozent gewichtet. Der Vorstand kassierte hier für bereinigte 0,9 Millionen Euro Ebitda 2023 einen Bonus. Das Konzernergebnis war mit minus 48 Millionen Euro tiefrot. Aktionäre sitzen seit dem Börsengang 2021 auf Verlusten von 85 Prozent.
Anleger stehen bei der Interpretation bereinigter Kennzahlen vor mehreren Problemen: Nicht nur müssen sie im Geschäftsbericht nachprüfen, um was die Zahlen konkret bereinigt wurden. Die Bereinigungen können sich auch von Jahr zu Jahr ändern. Der Kochboxen-Anbieter HelloFresh schreibt in seinem Geschäftsbericht, das bereinigte Ebitda schließe Posten aus, „von denen wir denken (!), dass sie keine Rückschlüsse auf den Unternehmenserfolg zulassen“. Gegebenenfalls denkt sich das Unternehmen dabei jedes Jahr etwas anderes, möchte man hinzufügen.
Der Chef von About You, Tarek Müller, schrieb zur Verteidigung seiner Zahlenakrobatik auf X (vormals Twitter), es gebe klare Regeln dafür, um was ein im Prime Standard der Deutschen Börse notiertes Unternehmen sein Ebitda bereinigen dürfte. Doch das ist falsch. Hier wird nur allgemein die Rechnungslegung nach IFRS oder GAAP verlangt, und diese Bilanz-Regelwerke sagen eben genau nichts zum bereinigten Ebitda, einer sogenannten „alternativen Leistungskennzahl“, aus.
Weitere Schwierigkeit für Anleger: Unternehmen geben gern vorläufige Ergebnisse eines Geschäftsjahres vorab bekannt. Zu diesem Zeitpunkt ist der Geschäftsbericht noch gar nicht verfügbar, die genaue Interpretation der Kennzahlen somit nicht möglich. Die Schlagzeilen dazu werden natürlich trotzdem schon publiziert. Dass die Presse später noch einmal in den Geschäftsbericht schaut und ihr vorschnelles Urteil gegebenenfalls korrigiert, darauf sollte man sich als Anleger nicht verlassen. Hier hilft nur Selbststudium.
Für Investoren aller Art, vom Privatanleger bis zum Fondsmanager, sind die Zahlenkunststücke der Unternehmen hochproblematisch. Besserung ist nicht in Sicht. Es bleibt nur die Erkenntnis: Wer mit diesen Kennzahlen umgeht, sollte wissen, was sich dahinter verbirgt, und sie als eine Art Instagram-Filter für Unternehmensfinanzen betrachten. Diese Filter lassen sich bekanntlich für jedes neue Foto beliebig ändern.
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