Ruhezeiten Was bringt ein Recht auf ungestörten Feierabend?

Ruhezeiten: Braucht es ein Gesetz, um nach Feierabend richtig abzuschalten? Quelle: imago images

Die australische Regierung will E-Mails und Anrufe vom Chef nach Feierabend sanktionieren. In Spanien und Portugal, Frankreich und Belgien gelten ähnliche Regeln schon länger. Was die Erfahrungen dort lehren.

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Pascal Schröter konnte nicht mehr. Diagnose: Burnout. 2018 war das. Als Schröter noch in Madrid bei einer Videospielfirma arbeitete. Ständig war er erreichbar. „Da musste ich auch mal mitten in der Nacht an den Rechner – oder das komplette Wochenende durcharbeiten“, sagt Schröter. Der ständige Stress machte ihn krank. „Und ich zog die Reißleine.“ Ein neuer Job musste her.

Heute arbeitet Schröter noch immer in Spanien. In Barcelona. Bei einer Firma, die Softwareprodukte, Webseiten, Präsentationen, rechtliche Dokumente der Kunden für neue Märkte und die dortigen Gepflogenheiten anpasst. Dass es ihm heute besser geht, hat allerdings nicht nur mit dem neuen Arbeitgeber zu tun. In der Arbeitswelt Spaniens hat sich seitdem viel getan. Seit Ende 2018 gilt das Gesetz „über den Schutz personenbezogener Daten und die Gewährleistung der digitalen Rechte“. Artikel 88 soll die „Vereinbarkeit von Arbeit und Privat- und Familienleben“ fördern. Beschäftigte haben demnach das Recht, die digitale Verbindung zum Arbeitgeber zu unterbrechen, „um außerhalb der gesetzlich oder vertraglich festgelegten Arbeitszeit die Einhaltung ihrer Ruhezeiten, ihres Urlaubs und ihrer Ferien sowie ihrer persönlichen und familiären Privatsphäre zu gewährleisten“, wie es im Gesetzestext heißt.

„Bei meinem aktuellen Arbeitgeber wird das Gesetz zur Unerreichbarkeit sehr streng durchgesetzt“, berichtet Pascal Schröter. „Nach Feierabend kontaktiert uns das Unternehmen nicht mehr.“ Schröter hat eine Kernarbeitszeit, loggt sich für die Erfassung der Arbeitszeit ein und aus. „Wenn ich daheim die Verbindung zum Firmennetz trenne, habe ich Feierabend. Bis zum nächsten Morgen“, erzählt Schröter. Mails, die dann noch ankommen, sieht er nicht – er bekommt sie nicht aufs Handy. „Meine Chefs haben zwar meine Telefonnummer. Aber nach Feierabend höre ich von ihnen nichts mehr.“

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Ein Recht auf Feierabend: Spanien ist nicht das einzige Land, in dem ein solches Gesetz gilt. Aktuell arbeitet die Regierung in Australien daran, ein ähnliches Vorhaben umzusetzen: Unternehmen könnten dann sogar strafrechtliche Konsequenzen drohen, wenn sie ihre Mitarbeiter anrufen oder per E-Mail kontaktieren, nachdem sie Feierabend gemacht haben. Das Gesetz hat der Senat bereits verabschiedet, noch fehlt die Zustimmung des Repräsentantenhauses.

„Das ist einfach unzumutbar“

Beschäftigte, die nur für die Stunden bezahlt werden, die sie tatsächlich arbeiten, gerieten in Schwierigkeiten, wenn sie ihre E-Mails mal nicht abriefen, erklärte der australische Arbeitsminister Tony Burke neulich in einem Interview mit dem Radiosender „Radio National“ den Vorstoß. Von ihnen werde erwartet, dass sie „eine ganze Zeit lang“ arbeiteten, für die sie aber nicht bezahlt werden. „Und das ist einfach unzumutbar“, kommentierte Burke.

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Pascal Schröter empfindet das Gesetz in Spanien als „sehr streng“. „Auch wenn es vielen Beschäftigten sicherlich den Stress nimmt.“ Wenn ihm ein Klient spätabends noch eine Mail schreiben würde mit der Frage, ob er bestellte Dateien auch einen Tag früher bekommen könnte, „würde mir das ja nicht schaden“, meint Schröter. Hat er abends nichts vor, könnte er sich noch dransetzen. Die ein oder andere Überstunde verhindert das Recht auf Unerreichbarkeit im Fall von Schröter also nicht. Entscheidend sei dabei für ihn: „Kommt die Motivation, nach Feierabend noch mehr zu arbeiten, von mir selbst, ist das für die Gesundheit und den Stresslevel kein so großes Problem wie angeordnete Überstunden.“

Wenn Schröter gerade in der Bar oder im Restaurant sitze, würde er solche Mails nur ungerne beantworten müssen, wie er sagt. „Und das kann ich ja selbst steuern.“

Auch während der Pause kontaktieren ihn seine Vorgesetzten nicht. Seinen Status schaltet er dann auf „Nicht verfügbar“ – und das überprüfe die Firma auch. „Als ich einmal vergessen hatte, die Pausenzeit zu nehmen, hat mich unsere Personalabteilung in einer E-Mail darauf aufmerksam gemacht“, berichtet Schröter.

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Spanien steht mit dieser Regelung nicht alleine da. Frankreich führte bereits 2017 das El-Khomri-Gesetz ein, um die Unerreichbarkeit zu regeln – benannt nach der damaligen Arbeitsministerin Myriam El Khomri. Ein Gesetz in Belgien ermöglicht es Beamten seit Februar 2022, Anrufe, SMS und E-Mails nach Feierabend stummzuschalten. In Portugal gilt das Recht auf Unerreichbarkeit seit November 2021. Dort müssen Arbeitgeber mit mehr als zehn Mitarbeitern mit Sanktionen rechnen, wenn sie ihre Mitarbeiter nach Feierabend mit SMS, E-Mails oder Anrufen kontaktieren.

Gleiche Rechte im Homeoffice

Für Gewerkschaftler Carlos Alves ist das Gesetz eine „sehr relevante und tiefgreifende Klarstellung“ der ohnehin geltenden Regelungen rund um Höchstarbeits- und Ruhezeiten. Vor allem in einer Phase, „in der die Arbeitnehmer immer mehr unter Druck geraten, schnelle Antworten zu geben, und in der es insbesondere im Rahmen der Telearbeit ein großes Potenzial für die Deregulierung der Arbeitszeit gibt“. Alves ist Vorstandsmitglied beim portugiesischen Gewerkschaftsbund UGT (União Geral de Trabalhadores) und leitet dort die Rechtsabteilung.

Die Änderung des Arbeitsrechts ist für Alves ein „Gamechanger“ und erinnere nun daran, dass Beschäftigte im Homeoffice „Arbeitnehmer mit gleichen Rechten“ seien. „In einer Zeit schneller und tiefgreifender Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und insbesondere in einem Land mit traditionell langen Arbeitszeiten hat diese rechtliche Verbesserung dazu beigetragen, einen wirksameren Rahmen zur Verhinderung von Missbrauch zu schaffen und den Tarifverhandlungen in dieser Frage und allgemeiner in der Frage der Arbeitszeit neue Impulse zu geben“, sagt Alves.

2022 lag die durchschnittlich geleistete Wochenarbeitszeit unter Beschäftigten ab 15 Jahren in Portugal bei 39,7 Stunden pro Woche – der fünfthöchste Wert in den Ländern der EU. In Deutschland waren es gerade mal 34,7 Stunden und im EU-Schnitt glatte 37 Stunden. Nur in Dänemark und den Niederlanden arbeiten die Menschen weniger als in Deutschland.

Und wie sieht's in Deutschland aus?

Hierzulande ist die Rechtslage deutlich diffuser. Zwar gelten durch das Arbeitszeitgesetz „klare Rahmenlinien zur Höchstarbeitszeit, den Ruhezeiten und dem Verbot von Sonn- und Feiertagsarbeit“, wie Arbeitsrechtlerin Emma Lotz, Anwältin bei der Frankfurter Kanzlei Bluedex, sagt. Allerdings bestehe weder ein Recht auf Unerreichbarkeit noch eine Pflicht zur Erreichbarkeit.

In einer Entscheidung aus dem Jahr 2023 hat sich das Bundesarbeitsgericht (BAG) mit der Frage der Erreichbarkeit beschäftigt. Konkret ging es um die Klage eines Notfallsanitäters aus Schleswig-Holstein: Über das Internet können die Beschäftigten dort den Dienstplan der kommenden Tage einsehen. Als sein Dienst am 6. April 2021 um 19 Uhr endete, war der Sanitäter für den 8. April als Springerdienst vorgesehen. Als er am 7. April nicht arbeitete, teilte ihn der Arbeitgeber am Mittag für einen Dienst ab 6 Uhr am darauffolgenden Tag ein, versuchte ihn telefonisch zu erreichen und schickte eine SMS. Der Sanitäter meldete sich am nächsten Morgen allerdings erst um halb acht zum Dienst. Der Arbeitgeber erteilte eine Ermahnung und zog ihm Stunden vom Arbeitszeitkonto ab. Im September 2021 kam es zu einem ähnlichen Vorfall, der sogar zu einer Abmahnung wegen unentschuldigten Fehlens führte.

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Daraufhin klagte der Sanitäter auf „(Wieder-)Gutschrift abgezogener Arbeitsstunden auf dem Arbeitszeitkonto und auf Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte“, wie es in der Entscheidung des BAG heißt. Das Gericht sah das anders: „Ist dem Arbeitnehmer auf der Grundlage der betrieblichen Regelungen bekannt, dass der Arbeitgeber die Arbeitsleistung für den darauffolgenden Tag in Bezug auf Uhrzeit und Ort konkretisieren wird, ist er verpflichtet, eine solche, per SMS mitgeteilte Weisung auch in seiner Freizeit zur Kenntnis zu nehmen.“

Für Arbeitsrechtlerin Emma Lotz gibt das BAG-Urteil „lediglich Antworten auf einzelne Aspekte“. Etwa dazu, „dass die bloße Kenntnisnahme von Mitteilungen in der Freizeit nicht per se Arbeitszeit darstellt“, wie Lotz sagt. Für Lotz hat das BAG „tendenziell arbeitgeberfreundlich“ entschieden. Denn: „Arbeitnehmer können verpflichtet werden, kurze Mitteilungen des Arbeitgebers auch in der Freizeit entgegenzunehmen – eine SMS oder einen Anruf etwa“, sagt Lotz. Die Kontaktaufnahme dürfe allerdings „einen gewissen Intensitätsgrad nicht überschreiten“: Beeinträchtigt der Kontakt den Arbeitnehmer in seiner Freizeit „nicht unerheblich“, zähle das als Arbeitszeit. „Und der Arbeitnehmer müsste zum Beispiel wieder neue Ruhezeiten einhalten“.

Eine SMS, in der die Chefin darüber informiert, dass die Arbeit am nächsten Morgen um 7 Uhr statt um 9 Uhr beginnt, hält Lotz für unerheblich, wenn Aufwand für die Kenntnisnahme dieser Nachricht „zeitlich geringfügig“ ist. Anders dürfte die Situation hingegen bewertet werden, wenn das Abrufen der Nachricht einen größeren Aufwand erfordert, etwa durch das Einloggen ins System, und der Arbeitnehmer dabei auch nicht frei wählen könnte, wann er die Nachricht konkret abruft, sagt Lotz. „Ohnehin hängt viel vom Einzelfall ab: von der Berufsgruppe, der Position des Arbeitnehmers, den Regelungen im Arbeitsvertrag oder einer anwendbaren Betriebsvereinbarung.“

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Viele Fragen sind also noch offen. „Und es wäre schön, wenn wir schon so weit wären wie andere Länder, in denen es konkrete gesetzliche Regelungen gibt“, sagt Lotz.

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