Wer Migräne hat, hörte von seinem Arzt bestimmt schon mal dieses Wort: Trigeminusnerv. Dann, wenn die Mediziner erklären, wie der quälende Dauerschmerz im Kopf entsteht. Der Trigeminus ist ein Hirnnerv, der Stirn, Gesicht und Kaumuskulatur mit dem Gehirn verbindet. Nach der derzeit vorherrschenden Theorie sendet er Fehlsignale an Blutgefäße in der Hirnhaut. Und das soll Entzündungsstoffe freisetzen, die Gefäße erweitern sich, werden durchlässiger, und der Teufelskreis der Schmerzen beginnt.
Neue Daten aus den USA stellen diese Idee nun infrage: Auch sie sprechen dem Trigeminus eine prominente Rolle bei der Migräne zu. Nur dass es den Forschern um die Neurobiologin Maiken Nedergaard von der University of Rochester/New York gelungen ist zu zeigen, dass es dabei nicht um fehlgeleitete Nervensignale geht. Sie belegen etwas, das bisher für abwegig gehalten wurde: Bei Migränepatienten hat der Trigeminusnerv an seinem hirnseitigen Ende ein Loch.
Die Arbeit ist im Fachmagazin Science erschienen. Das Loch sitzt zwischen den Nervenzellen des Trigeminus, die die Signale aus dem Gesicht verarbeiten, und dem Gehirn. Genauer gesagt, seiner Haut. So kann Gehirnflüssigkeit zu dem Nervenzellhaufen gelangen. Das ist der Grund, warum bei Migräne auf eine Aura eine Schmerzattacke folgt.
Eine Migräne-Aura können Stimmen-Halluzinationen sein, Taubheitsgefühle, meistens aber sind es Sehstörungen, vorübergehende Blindheit, Lichtblitze, blendende Kreise oder „Sternschnuppen“. Diese Symptome treten typischerweise fünf bis 60 Minuten vor den Kopfschmerzen auf. Es wird geschätzt, dass einer von 10 Menschen an Migräne leidet, und in etwa einem Viertel dieser Fälle geht den Kopfschmerzen eine Aura voraus.
Bei Migräne gibt es eine Welle im Kopf
Auf der Ebene der Gehirnzellen findet in dem Moment ein Spannungsverlust statt. Die Zellen, über deren Membran sich sonst elektrische Spannungen aufbauen, „depolarisieren“. Das heißt, sie können keine elektrische Spannung mehr aufbauen, und damit auch nicht mehr kommunizieren. Am häufigsten befindet sich das Depolarisationsereignis im visuellen Verarbeitungszentrum der Hirnrinde, daher die visuellen Symptome, die zuerst einen bevorstehenden Kopfschmerz ankündigen.
Die Spannung geht verloren, weil Stoffe, die den Spannungsunterschied ermöglichen, förmlich weggespült werden. Nedergaard und ihre Kollegen an der University of Rochester und der University of Copenhagen sind Pioniere beim Verständnis des Flüssigkeitsflusses im Gehirn. Im Jahr 2012 war ihr Labor das erste, das das „glymphatische System“ beschrieb: Sowohl das Gehirn als auch das Rückenmark sind von flüssigkeitsgefüllten Hautsäcken umgeben. Das System verwendet in Notfall diese Flüssigkeit, um giftige Proteine im Gehirn wegzuspülen.
Bei Migränepatienten passiert das auch einfach so. Dabei werden wieder Proteine freigesetzt, als Alarmsignale dafür, dass die Sache mit der Spannung gerade nicht funktioniert.
Bisher wurde angenommen, dass das Ende des Trigeminusnervs außerhalb dieser Häute ruht und die biologische Schranke dort streng kontrolliert, welche Moleküle in das Gehirn eintreten und welche es verlassen können.
In Versuchen mit Mäusen, bei der sie die Flüssigkeitswelle künstlich erzeugten, fanden die Forscher nun jedoch eine bisher unbekannte Lücke in der Barriere. Über sie könnte die Flüssigkeit aus dem Gehirn austreten, und direkt zum Nervenzellknoten an der Spitze des Trigeminus fließen. Das würde diese Nerven dann dem Cocktail aus Alarmproteinen aussetzen.
Das Gehirn selbst kann keine Schmerzen erzeugen, wenn etwas nicht stimmt. Der Trigeminusnerv kann das schon. Und genau damit, mit Schmerzen, reagiert er auf die Welle von Flüssigkeit aus dem Gehirn.
Auch der Befund mit den Alarmproteinen ist zum Teil neu: Insgesamt identifizierten sie zwölf, deren Konzentration während eines Depolarisationsereignisses stark zunimmt und die gleichzeitig an Rezeptoren auf den sensorischen Nerven im Trigeminusende binden. Eines der Proteine heißt Calcitonin Gene-Related Peptid (CGRP), ist bereits das Ziel einer neuen Klasse von Medikamenten. Diese CGRP-Hemmer verhindern Migräneanfälle im Voraus.
Andere der in der Rochester-Studie identifizierten Alarmproteine sind schon aus weiteren Schmerzstudien bekannt. Sie sind bei neuropathischen Schmerzen beteiligt. Nedergaard und ihre Kollegen hoffen nun, dass man an der Stelle effektive Schmerzblocker entwickeln könnte: Sie sollen verhindern, dass die Proteine am Trigeminus ein Schmerzsignal auslösen können.
„In dieser Studie beschreiben wir, wie das zentrale und das periphere Nervensystem miteinander bei Migräne in Interaktion treten“, sagt Nedergaard in einer Pressemitteilung ihrer Universität. „Diese Ergebnisse liefern uns viele neue Angriffspunkte für Medikamente. Ideen, wie man die Nervenaktivierung verhindern könnte oder dass Migräne überhaupt entsteht.“
Der Zusammenhang mit der Flüssigkeitswelle im Kopf erklärt auch, warum so viele Migränepatienten einseitige Schmerzen haben: Es gibt auf jeder Kopfseite je ein Trigeminusende. Die Forscher beobachteten, dass der Transport von Proteinen, die in einer Seite des Gehirns freigesetzt werden, vor allem die Nerven auf derselben Seite erreicht.