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Transgender

Beat löschte sein „t“ – und kehrte als Frau zurück

Autorenprofilbild von Christine Kensche
Von Christine KenscheNahost-Korrespondentin
Veröffentlicht am 29.05.2015Lesedauer: 10 Minuten
Fühlt sich mit 46 Jahren endlich wohl in ihrer Haut: Bea Knecht führt den Schweizer Fernsehstreamingdienst Zattoo
Fühlt sich mit 46 Jahren endlich wohl in ihrer Haut: Bea Knecht führt den Schweizer Fernsehstreamingdienst ZattooQuelle: Foto: Martin U. K . Lengemann

Mit der Gründung des Internet-Fernsehens Zattoo wurde sie zu einer der erfolgreichsten Unternehmerinnen Europas. Bea Knecht zögert selten. Doch für eine Entscheidung hat sie Jahrzehnte gebraucht.

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Das Schwierigste, sagt Bea Knecht, sei der Entschluss. Der Rest ist im Grunde Kalkulation. Zeit. Geld. Und Schmerz. Was kostet es, eine Frau zu werden? Ein Rechenbeispiel: Ihr Bart hatte 30.000 Haare. 10.000 schwarze, 20.000 weiße. Die schwarzen werden mit einem Laser attackiert. Der Lichtstrahl erhitzt sich auf 70 Grad und zappt die Stoppeln bis zur Wurzel weg. Sechs Sitzungen à 350 Euro. Das Problem sind die restlichen 20.000 Haare. Die müssen einzeln herausgeholt werden.

Eine feine Nadel sticht fünf Millimeter tief durch die Haut in den Follikel. Stromimpulse erhitzen die Spitze und veröden die Wurzel. Gute Epilatoren schaffen rund 3000 Haare an einem Tag. Rote Flecken sprengen sich über die Wangen, das Gesicht schwillt zur konturlosen Maske an, zwei Wochen lang. Bis zur nächsten Behandlung. Sechs Sitzungen à 1000 Euro. Oder: 20.000 Stiche mal drei Stromimpulse. „Das ist eine Tortur wie in Guantánamo.“

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Vom Mann zur Frau: Rund 60.000 Euro hat Bea Knecht für eine OP und fünf Behandlungen ausgegeben
Vom Mann zur Frau: Rund 60.000 Euro hat Bea Knecht für eine OP und fünf Behandlungen ausgegebenQuelle: Foto: Martin U. K . Lengemann

Bea Knecht bestellt einen Drink in der Bar des „Hotel de Rome“ am Bebelplatz. Dunkle Ledersessel in der Lounge, grelle Kunst an der Wand. Ihr Büro, wenn sie in Berlin ist. Sie führt den Schweizer Fernsehstreamingdienst Zattoo, eine Internetplattform für TV-Sender. Knecht fällt auf in dem Szene-Ambiente. Kurzes Kleid, hohe Schuhe, tiefes Dekolleté, Perlenkette. Etwas fehlt. „Meine Freundinnen sagen, ich könnte doch mal Make-up tragen.“ Sie streicht sich über die blassen, glatten Wangen. Die Freundinnen verstehen nicht, was es bedeutet, endlich natürlich auszusehen.

Wenn sie über ihre Vergangenheit spricht, kann sie zwei Versionen erzählen. Die Geschichte des erfolgreichen Unternehmers Beat, der 2005 ein Start-up gründet, das bald in fünf europäischen Ländern vertreten ist. Des Managers, der im Flugzeug lebt, mit Apple verhandelt, Vorträge über die Zukunft des Fernsehens hält.

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Und dann gibt es noch die Geschichte einer Person, die sich über die stoppeligen Wangen streicht und sich vorstellt, wie das wäre, wenn die weich wären. Die in der wenigen Freizeit Wohnungen kauft, die etwas lädiert sind, und die sie dann aufwendig renovieren lässt. Bis sie keinen Makel mehr haben.

Beat will wie eine Frau geliebt werden

Wenn man so will, beginnt ihr eigentlicher Lebenslauf erst 2012, als Knecht die beiden Versionen zu einer Erzählung fügt. Mit 44 Jahren entschließt sich Beat, seinen eigenen Makel zu entfernen. Er streicht das „t“ aus dem Vornamen und nimmt eine Geschlechtsumwandlung vor. „Geschlechtsangleichung“, sagt Bea. Eine Annäherung der äußeren an die innere Natur.

Dass da ein Widerspruch herrschte, hat Knecht schon früh geahnt. So etwa im Alter von sechs Jahren. Das Kind wusste noch nicht, was Geschlecht überhaupt ist. Aber andere hielten es oft für ein Mädchen. Und dann war da dieses unbestimmte Gefühl, Teil eines unsichtbaren Experiments zu sein. Die anderen Jungs rauften sich permanent. Beat fand nichts am Prügeln. Er musste das erst lernen. Beobachten. Nachahmen. Ein Mann werden. Selbstverständlich hat sich das nie angefühlt, eher wie eine notdürftige Imitation.

Den Moment der Gewissheit beschreibt Knecht so: „Es war, als ob eine Kugel über eine Bergkuppe rollt und im Tal liegen bleibt.“

Ich kusche nicht automatisch, nur weil ich jetzt eine Frau bin

Bea Knecht,Gründerin des Internet-Fernsehens Zattoo

Mit 19 Jahren zieht Beat aus der Schweizer Provinz nach San Francisco. In Berkeley studiert er Informatik, trifft neue Freunde, macht sexuelle Erkundungen. Die Frauen lieben ihn als Mann. Beat will wie eine Frau geliebt werden. Das Gefühl überkommt ihn mit einer Kraft, die schön und furchtbar zugleich ist. Er weiß nun, wer er sein möchte. Aber was fängt er mit diesem Wissen an? Es gibt noch keine Literatur zum Thema Transgender. Er kennt niemanden, dem er Fragen stellen könnte. Die Eltern würden es nicht verstehen. Seine Freundin, der er sich damals anvertraut, verlässt ihn. Die Trennung trifft ihn schwer. „Ich habe die so geliebt.“

Die Kleider, die er auf einem Ausflug nach New York anprobiert hat, packt er ganz hinten in den Schrank. Die Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit verstaut er zusammen mit der Furcht vor Ablehnung irgendwo tief in sich.

Ein kompliziertes Projekt

Beat macht Karriere. In einer internationalen Unternehmensberatung steigt er zum Geschäftspartner auf. Er widmet sich gern den komplizierten Projekten, schreibt Software für Banken, organisiert die Datenbanken eines riesigen Aluminiumkonzerns neu. Man muss eine Aufgabe nur gut durchdenken, dann findet man immer eine Lösung.

Ende der 90er, er ist jetzt 30 Jahre alt, drängt sich das Gefühl wieder in den Vordergrund. Es gibt nun Aufsätze über das Phänomen Transgender, und Beat verfolgt jeden Schritt, den die Wissenschaft in die Grauzone der Geschlechterforschung vordringt. Eine Operation wäre eine Möglichkeit. Aber sein Körper ist geschwächt. Bei einem Rafting-Ausflug ist er vom Schlauchboot gestürzt. Die Gesundheit geht nun vor. Danach die Idee für ein vielversprechendes Geschäft. Zehn Jahre später, er ist nun Chef seines eigenen Unternehmens und sitzt wieder einmal im Flugzeug, stiehlt sich eine Frage in seinen Kopf, und geht nicht mehr weg. Wofür lebe ich eigentlich?

„Die Gesundheit ist eingetopft, die Karriere ist eingetopft, jetzt ist die Identität dran“, sagt er sich. Aber was wird die neue Freundin davon halten? Wie werden die konservative Mutter, die vier Geschwister, die 60 Angestellten reagieren? Die Zweifel sind groß, die Angst lähmt. Schließlich zieht der Manager einen Strich. Nicht mehr zögern, entscheiden. Eine Geschlechtsangleichung ist im Prinzip nichts anderes als ein kompliziertes Projekt. Es muss einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben.

Das Projekt beginnt mit einer Reise. Beat nimmt sich vier Monate Auszeit und fliegt in die USA, wo die Forschung am weitesten ist. Er spricht mit mehr als 100 Transgender-Frauen und -Männern, die sich getraut haben, eine Geschlechtsangleichung zu machen. „Würdest du es noch mal tun?“ Die meisten bejahen seine wichtigste Frage.

Ein Spezialist schleift die Kieferknochen ab

Sein Geschlecht ist ein Fabrikationsfehler. Fünf Behandlungen sollen den Fehler berichtigen. Rund 60.000 Euro kostet die Korrektur. Männer haben oft einen Wulst über den Augen, das Stirnbein steht weiter vor. Die Kieferknochen sind eckig; bei Frauen sind sie eher oval geformt. Wenige Millimeter entscheiden darüber, ob jemand als Frau oder Mann wahrgenommen wird. Diese Millimeter müssen weg.

Ein Spezialist in San Francisco trennt ihm die Haut an der Stirn auf, fräst die Knochenpartie unter den Augenbrauen ab. Dann ist der Kiefer dran. Zwölf Stunden schneiden und schleifen. Für ihn ist es der wichtigste Schritt auf dem Weg zur Frauwerdung. Beat verblasst. Bea nimmt Gestalt an.

Als Nächstes müssen die Barthaare weggebrannt werden. Zwei Epilationsexperten in Dallas bearbeiten über mehrere Wochen hinweg Beas Wangen. Parallel lässt sie sich die Haare lang wachsen und nimmt Sprechunterricht. Die männliche Stimme liegt im Frequenzbereich von 80 bis 180 Hertz. Die weibliche bei 170 bis 280. Eine Logopädin in Colorado, die auch Schauspieler und Opernsänger trainiert, diktiert Stimmbandübungen und misst die Frequenz. Bis ihre Stimme deutlich höher klingt.

Beat ist gegangen. Bea kehrt zurück. Kurz vor Ende des Sabbaticals ruft sie den Geschäftsführer und ihre Sekretärin an, über Skype. „Ich habe eine gute Nachricht“, sagt sie. Dann schaltet sie das Video zu. Relativ gesammelt, so umschreibt sie die Reaktion ihrer Angestellten. „Du hast das bestimmt gründlich recherchiert“, sagt der Geschäftsführer nach einer Pause. „So wie wir dich kennen, wird das schon richtig sein.“ Gleich am ersten Arbeitstag stehen zwei Generalversammlungen auf dem Terminplan. Bea Knecht erscheint im Hosenanzug. Auf Rock und High Heels verzichtet sie vorerst.

Der Busen wird aus eigenem Körperfett geformt

Akzeptanz, sagt Knecht, könne man managen. Zuerst müsse man die Meinungsführer um sich scharen. Wenn man die auf seiner Seite habe, zögen die anderen hinterher. Dann gebe es noch ein paar, die ballten die Faust in der Tasche, aber trauten sich nicht mehr, Terror zu machen. Im Prinzip müsse man zeigen, dass sie einen lieben Freund oder geschätzten Kollegen verlieren, aber dafür eine neue Freundin oder Kollegin gewinnen. „Wie ein Bauer, der seine Kuh verkauft und sich damit einen Traktor finanziert. Unternehmer verstehen das.“ Die Familie hat länger gebraucht, um sich an die Veränderung zu gewöhnen. Die Freundin hat Schluss gemacht.

Endlich natürlich: Auf Make-up verzichtet Bea Knecht bisher
Endlich natürlich: Auf Make-up verzichtet Bea Knecht bisherQuelle: Foto: Martin U. K . Lengemann

Manchmal fühlt sich Bea Knecht, als wohnte sie ihrer eigenen Beerdigung bei. Freunde und Angehörige reden über ihr altes Ich, als wäre sie gestorben. „Du warst immer der Begabteste von allen“, sagt die Mutter wehmütig.

Mitte des Projekts. 2013 fliegt Knecht nach Boston. Sie ist eine der ersten Transgender-Patientinnen, bei der der Busen aus dem eigenen Körperfett geformt wird. Ein Schönheitschirurg saugt ihr Fettgewebe aus den Unterschenkeln und dem Bauch. Mit einer Zentrifuge trennt er es von Blut und Wasser, dann spritzt er das Fett in die Brust.

Auch das Haar soll schöner werden: Geheimratsecken verdecken, Volumen erhöhen. Circa 100 bis 170 Haare wachsen bei einer Frau ihres Alters auf einem Quadratzentimeter Kopfhaut. In Vancouver findet sie die Koryphäe der Echthaartransplantation. Bis zu 90 Haare pro Quadratzentimeter schafft der Arzt. Er pflanzt sie auf den Kopf wie in ein Blumenbeet. Mit einem Stempel stanzt er 2000 winzige Löcher in die Kopfhaut. In die werden dann die Haare eingesetzt. Mal eins, mal zwei oder drei pro Loch. Mal gerade, mal so, dass sie einen Wirbel bilden.

Die männlichen Hormone würden das neue Haar angreifen, deswegen nimmt Knecht Pillen, die die Testosteronproduktion herunterfahren. Gibt es weniger Hormone im Blut, werden allerdings die Knochen porös. Dagegen lässt sie sich Pellets ins Fettgewebe implantieren: Linsengroße Zylinder, die sich langsam auflösen und dabei Östrogene absondern. Einmal im Jahr müssen die Päckchen erneuert werden.

„Ich kusche nicht, nur weil ich jetzt eine Frau bin“

Ihr Erscheinungsbild ist nun beinah makellos. Eine letzte Operation könnte sie noch machen, damit sie körperlich vollständig weiblich ist. Ob sie diesen Schritt wirklich wagt, hat Bea Knecht bisher nicht entschieden. Sie fühlt sich gut, wie sie jetzt ist. Sie sitzt noch immer viel im Flieger. Aber da ist nichts mehr, was sie innerlich zerreißt. „Ich bin selber erstaunt, wie glücklich ich bin.“

Erstaunt ist sie auch, wie selbstverständlich Fremde sie nun als Frau wahrnehmen. Und wie sie jetzt manchmal behandelt wird. Neulich saß Knecht in einer Nachbarschaftsversammlung am Zürichsee. Die Grundstücke müssen neu berechnet werden, eine komplizierte Aufgabe. Sie bot sich an, die Zonenordnung zu organisieren. Daraufhin unterbrach sie ein Anwohner. Er traue ihr das nicht zu, sagte der ältere Herr, ein Architekt. „Das ist zu schwierig für Sie.“ Sie schmunzelt. Beat hätte einen solchen Einwand wohl kaum zu hören bekommen. Sie hat die Berechnung dann trotzdem gemacht.

„Ich kusche nicht automatisch, nur weil ich jetzt eine Frau bin“, sagt Bea Knecht. Das sei einer der wenigen Vorteile daran, dass sie als Mann sozialisiert wurde. Dafür gibt es nun viele Dinge, die sie neu lernen muss. Tanzen zum Beispiel. Sich anschmiegen, führen lassen. Männer lieben ist auch so eine Sache. Bislang war sie nur mit Frauen zusammen. Manche Männer findet sie nicht unattraktiv. „Aber wenn die dann schwitzend vor mir stehen … Vielleicht sind es die Pheromone“, sagt Knecht. Ein chemischer Prozess im Körper, den kann sie nicht ändern. „Was soll’s. Dann wäre ich eben lesbisch.“

2017 soll das Projekt in die Endphase gehen. So viel Zeit wird sie noch brauchen, bis sie sich 100 Prozent authentisch als Frau fühlt; auch die kleinen Situationen meistert, die ihr im Alltag begegnen. Laufmaschen. Die Fahrradpedale reißen schnell mal eine in die Strumpfhose. Daran denken, ein Ersatzpaar in die Handtasche zu packen. Nagellack. Der macht die Fingernägel brüchig. Was kann man dagegen unternehmen?

Beobachten. Nachahmen. Eine Frau werden. „Das ist eine asymptotische Annäherung“, sagt Bea Knecht. Innen und außen sind noch nicht deckungsgleich. Doch das Schwierigste hat sie hinter sich. Der Rest braucht im Grunde nur Zeit. Geduld. Und ein bisschen Übung.