Den Spitznamen fürs Leben bekommt er schon verpasst, noch lange bevor er zum Idol seiner Branche wird. Weil sich die Eltern um das malträtierte Schuhwerk ihres jeden Tag mehrere Stunden auf der Straße spielenden Jungen sorgen, klagen sie im besten Hamburger Plattdeutsch: „Us Uwe, de haja keene reacht Futtball-Schoh.“
Und so entsteht in den Kriegswirren jener Jahre aus dem kummervollen Satz „Unser Uwe, der hat ja keine richtigen Fußball-Schuhe“ ein Kosename, der den Ausnahmespieler während seiner gesamten Karriere begleitet – sogar bis zu seinem 85. Geburtstag, den er am Freitag feiert.
Eine große Party will Uwe Seeler nicht veranstalten. Es gebe Rouladen und Rotkohl bei einer kleinen Zusammenkunft daheim im Kreis der Familie, dazu Bier und Wein. Bodenständiges Essen für einen bodenständigen Typen. „Das Schönste auf der Welt ist es für mich, normal zu sein. Das ist einfach mein Leben. So bin ich, und so möchte ich auch bleiben“, sagt der Jubilar. „Ich bin stinknormal, das gefällt mir.“
Attribute, die auf sein Wirken abseits des Platzes zutreffen. Auf dem Feld aber ist Seeler Zeit seiner Laufbahn ein außergewöhnlicher Mittelstürmer. 1944 meldet ihn Vater Erwin (selbst ein prominenter Spieler zu jener Zeit) beim Hamburger Sport-Verein an, der Klub mit der Raute wird für „Uns Uwe“ zur Herzensangelegenheit.
Nie spielt er für einen anderen Verein, wird zu einem anerkannten Symbol gelebter Klubtreue, lehnt 1961 gar ein Angebot von Inter Mailand in Höhe von damals unmoralischen 1,5 Millionen Mark für einen Wechsel ab und erzielt für den HSV sagenhafte 507 Tore in 587 Pflichtspielen. Ein nur 1,70 Meter großer Volksheld mit unbändigem Willen, der parallel zum deutschen Wirtschaftswunder sportliche Großtaten vollbringt.
Lob von Herberger
Denn auch mit der Nationalmannschaft reüssiert der gebürtige Hamburger in schöner Regelmäßigkeit. Nach seinem Debüt im Oktober 1954 mit gerade einmal 17 Jahren wird er zum bedeutsamsten Nationalspieler der Nachkriegszeit neben Fritz Walter und Helmut Rahn.
„Es gibt zweifellos spielerisch weitaus bessere Spieler“, sagt Bundestrainer Sepp Herberger. „Aber keiner besitzt das Talent wie Uwe Seeler, auf engstem Raum gegen die stärkste Bewachung so viel Wirkung zu erzielen.“ Seelers 43 Tore in 72 Länderspielen, seine vier WM-Teilnahmen ab 1958, darunter das legendäre Finale 1966 in London, bestätigen Herbergers Einschätzung später.
Zwei Spiele sind es schließlich, die Seeler zur Legende machen. 1961 muss er mit dem HSV im Landesmeistercup eine 1:3-Niederlage aus dem Hinspiel in Burnley umbiegen. Das Viertelfinalrückspiel im heimischen Volksparkstadion wird zum einem Fußballfest. Weil die Arena noch kein Flutlicht aufweist, muss der Anpfiff an jenem 15. März bereits um 16.30 Uhr erfolgen. 8000 Werftarbeiter der Howaldtswerke in Kiel wollen bei der Live-Übertragung am Fernseher dabei sein und beenden vorzeitig und ohne Erlaubnis des Firmenchefs ihre Schicht. In der gesamten Republik verfolgen 30 Millionen Menschen das Spiel, 71.000 Fans sind im Stadion dabei.
Seeler und die fast ausschließlich aus Hamburgern bestehende Mannschaft entfachen gegen die Vollprofis aus England ein Feuerwerk. 2:0 steht es zur Halbzeit, 4:1 am Ende. Seeler steuert zwei Tore bei, der HSV erreicht das Halbfinale, und der Frankfurter Sportfeuilletonist Richard Kirn schreibt zwei Sätze für die Ewigkeit auf: „Er ist unser Uwe. Welch ein kerniges Mannsbild.“ Der in Hamburg schon so Verehrte wird damit endgültig auch bundesweit zu „Uns Uwe“.
Todesurteil für jede Sportlerkarriere
Vier Jahre nach der Heldentat scheint Seelers Karriere vorzeitig beendet. Im Spiel bei Eintracht Frankfurt reißt er sich auf schneebedecktem Boden die rechte Achillessehne. Zu jener Zeit fast ein Todesurteil für jede Sportlerkarriere. Doch Seeler will entgegen der Einschätzung der Mediziner nicht aufgeben. Er ist mit 28 noch im besten Fußballalter. Er kämpft sich nach der Operation zurück ins Training, dann in die HSV-Mannschaft und schließlich sogar auch wieder in die Nationalelf. Denn die braucht ihn noch immer bitter nötig.
In einem eigens von seinem Kumpel Adi Dassler händisch gefertigten Spezialschuh mit der Schnürung hinten führt Seeler das Team beim entscheidenden WM-Qualifikationsspiel am 26. September 1965 in Solna als Kapitän aufs Feld. Nur sieben Monate und sieben Tage nach seiner schweren Verletzung.
Deutschland braucht einen Sieg, um beim globalen Kräftemessen ein Jahr später dabei zu sein. Nach dem 1:1 zur Halbzeit ist es Seeler, der in der 54. Spielminute zum 2:1-Erfolg über die Schweden trifft. Seine Frau Ilka, mit der er seit 62 Jahren verheiratet ist, meint bis heute, es sei das wichtigste Tor ihres Gatten überhaupt: „Sonst wären wir gar nicht in England dabei gewesen.“
Dort erlebt Seeler schließlich mit dem zweiten Platz seinen größten internationalen Triumph. Und es mutet fast schon tragisch an, dass der ganz große Coup einem der größten Sportler überhaupt verwehrt bleibt. Eine deutsche Meisterschaft gewinnt er 1960 mit dem HSV, drei Jahre später zudem den DFB-Pokal. Er wird mit 30 Treffern erster Torschützenkönig der neu gegründeten Bundesliga und dreimal Fußballer des Jahres. Mehr springt nicht heraus. Dass er es trotzdem zur Legende schafft, liegt an seiner Art. Am Menschen Uwe. Auch eine wenig ruhmreiche Zeit als HSV-Präsident zwischen 1995 und 1998 vermag nichts am Heldenstatus zu ändern.
Sein größter Wunsch für den Ehrentag? Gesundheit. Und dass sein inzwischen in der Zweiten Liga darbender Herzensklub rasch den Aufstieg packt. „Das wäre schön, wenn sie wieder in die Erste Liga kommen“, sagt Seeler. „Das jedoch kann dauern.“